G r o ß v a t e r s  E r l e b n i s s e

                          

Schwere Kriegsjahrehinter uns. Wir hatten, die jedoch in ihrer Auswirkung nicht an die Zeiten von 1939 / 45 heranreichten, gelernt, unsere Lebensansprüche recht tief zu schrauben und waren schon zufrieden, wenn uns der Magen nicht zu sehr anknurrte.

Wenn dann das Licht gespart werden musste und wir im Familien- und Freundeskreise gemütlich beieinander saßen; wenn das aufloderne Herdfeuer spielende Ringe an Decken und Wände zeichnete, erzählte ich oft aus der Vergangenheit.

Auch heute wurde ich gebeten, die Schummerstunde in dieser Weise angenehm zu verkürzen.
Die Zuhörer waren dann ganz Ohr und von dem Gehörten meist so erbaut, dass sie mir – und das nicht zum ersten Male – nahelegten, meine Erlebnisse in Buchform wiederzugeben.Erst auf das Bitten meiner Eheliebsten gebe ich diesem Wunsche nach und bringe die Plaudereien langer Winterabende in Buchform zum Besten.
Schon meine Großeltern hatten einen harten Lebenskampf zu bestehen gehabt. In den vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts (19. Jahrhundert) lebte mein Großvater als Organist und Lehrer in Lotzen, Kreis Landsberg a./W.. Widerwärtigkeiten trieben ihn nach Russland, wo er als Hauslehrer bei einem dortigen Fürsten tätig war.
Zeichnung: Ursula Riekenberg

Sein Freigeist, der doch so wenig in die damalige Zeit passte, muss ihn mit dem damaligen Sibirien bekannt gemacht haben, denn ich konnte trotz aller Nachforschungen nicht über seinen Verbleib erfahren. Vom Großvater haben wir Geschwister nie etwas erfahren. Die Großmutter reiste nach Königsberg und ließ ihren einzigen Jungen in Lübben, im Spreewald, als Kammmacherlehrling zurück.

Mein Vater, von seinen Eltern verlassen, wurde bei fremden Menschen erzogen. Später setzte er sich in meiner Heimatstadt Merseburg fest und kam infolge seiner guten Kenntnisse zum Verwaltungsdienst der Regierung.

Ich selbst beehrte als zweites Kind die Welt im allgemeinen und meine Eltern im besonderen mit meinem Dasein.

Merseburg ist eine über tausendjährige alte Stadt, am schönen Saalestrand gelegen und hatte seinerzeit nur etwa sechzehntausend Einwohner.

Winklige Straßen und schmale Gassen durchziehen nach dem Marktplatze zu die Stadt. Jahrhunderte alte Gebäude mit Spitzgiebeln und Verschnörkelungen versehen, zeugen von vergangenen Tagen. Der vielhundertjährige Dom mit dem Schlosse und das alte Rathaus bergen noch heute viele architektonische Kunstschätze. Selbst der verheerende Bombenkrieg hat noch manche Sehenswürdigkeiten übriggelassen.

Zu meiner Zeit, in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, ging der Nachtwächter mit Laterne, Spieß und Horn durch die Straßen und blies die Zeiten aus.

Um acht Uhr abends ertönte vom Stadtturm nach allen Seiten ein Choral. Das war für uns Kinder ein Zeichen zum Schlafengehen.

Der Türmer überwachte von seinem hohen Posten aus die schlummernde Stadt, wobei ihm seine Frau behilflich sein musste, war er doch seines Zeichens auch noch Schuhmacher. Wir Kinder gingen gern zu ihm. Wir mussten dann erst an einem sechzig Meter langen Drahtzug klingeln. Der Türmer lies den Schlüssel herunter und wir konnten über zweihundert Stufen hoch klettern und die herrliche Aussicht genießen.

Oft schon am frühen Morgen weckte fröhliche Marschmusik die Bewohner der Stadt. Die „Blauen Husaren“ in ihren pelzverbrämten Uniformen und schwarzweißen Haarbüscheln auf den Tschakos, zogen zu Übungen aus.

Die Geschäfte waren von morgens sechs bis abends zehn Uhr geöffnet. Sonntagsruhe galt noch lange Zeit als Fremdwort, wenigstens für die arbeitenden Klassen.

Die Geschäfte erkannte man schon von weitem an den heraushängenden Zunftzeichen wie: Schweineköpfen, Brezeln, Zuckerhüten, Schlüsseln, Zylindern, Schuhen und anderen.

Und die Menschen? Die waren anders als heute, ganz anders! Das lag an dem Charakter der Stadt, die schon vor Jahrhunderten Bischofssitz und Beamtenstadt war. Es war noch die Zeit der Herren und Knechte, in der die Menschen erst beim Akademiker und Offizier anfingen. Auch der Bürgerstand beanspruchte gewisse Vorrechte. Wehe den Geschäftsleuten, die sich in der Anrede ihrer Kunden nicht zurechtfanden und etwa die Frau Fischer mit ihrem Namen ansprach, anstatt mit Frau Postsekretär, der doch nur ihr Mann war. Solche Geschäftsleute hatten nur wenige Kunden.

Selbst in der Arbeiterschaft galt der gelernte Arbeiter mehr als der ungelernte.

Das überzüchtete Standesbewusstsein und der Kastengeist trieb seine Blüten soweit, dass selbst im Vereins- und Gesellschaftswesen strenge Grenzen gezogen wurden.

Zur Ehre meiner Geburtsstadt sei es aber gesagt, ganz so schlimm ist es heute nicht mehr. Die furchtbaren Zeiten der beiden Weltkriege sind nicht spurlos an ihr vorübergegangen.

Meine Erinnerungen reichen bis in das fünfte Lebensjahr zurück. Allerdings war dabei die Gefahr des Ertrinkens vorhanden.
Eine nette Erinnerung ist meine Einschulung.

Als ich vor den Lehrer trat, fragte mich dieser: “Na Kleiner, wie heißt Du denn?“. Strahlend nannte ich meinen Namen und gleich die Wohnung dazu. „Wann bist Du denn geboren?“. Das war schon schwieriger zu beantworten: „Im Frühling.“ sagte ich geradehin. Die Erwachsenen lächelten ob dieser Umgehung der Frage. „Was ist denn Dein Vater?“. Kurzes Überlegen, dann die sehr überzeugte Antwort: „Handwerksbursche!“. Da gab es aber ein lautes Gelächter auf allen Seiten, das ich gar nicht verstehen konnte, hatte Vater doch immer von sich erzählt, dass er einst Handwerksbursche war. Das musste doch auch etwas sehr schönes sein.

Da die ABC-Schützen nach dem Auffassungsvermögen gesetzt wurden, kam ich in eine der mittelsten Bänke. Es war also immer noch glimpflich abgegangen.

Bald nach der Einschulung machte ich mit einem Klassenkameraden und einem etwa fünfjährigen Mädchen einen Spaziergang nach dem Saalewehr. Beim Spielen in etwa fünfzig Meter Nähe des Wehres fiel die kleine Freundin in die Saale, und vor Schreck rissen wir Jungens aus. Zufällig war ein Schiffer in der Nähe und konnte die Kleine noch rechtzeitig retten. Die verdiente strenge Strafe blieb natürlich nicht aus.

Meine Eltern waren überstreng, und wehe, wenn wir eine Ermahnung des Lehrers dem Vater zur Kenntnis vorzulegen hatten. Unweigerlich und ohne Rücksicht darauf, dass wir schon vom Lehrer persönlich gezüchtigt worden waren, folgte noch eine strenge väterliche Züchtigung, die nicht selten auf den nackten Podex ausgeführt wurde.

In diesem Zusammenhange muss ich ein Ereignis aus meiner Schulzeit berichten, das ich wegen seiner seelischen Wirkung auf mich nicht vergessen konnte.

Im Deutsch, besonders aber im deutschen Schriftsatz, war ich ein guter Schüler, brachte jedoch die Quote selten auf „gut“.

Wieder einmal war ich versetzt worden, - nicht immer ging das so glatt ab - , da bekam ich in der neuen Klasse das Aufsatzthema: „Steter Tropfen höhlt den Stein“ zu bearbeiten. Der Aufsatz war, wie üblich, vorher mit uns Schülern besprochen worden, und ich ging mit allem Eifer an die Lösung der Arbeit. Mit dem Erfolge war ich sehr zufrieden, nicht aber der Lehrer. Als nach vierzehn Tagen die Aufsätze zurückkamen, wurde der meine nicht mit vorgelesen. Das war ein schlechtes Zeichen. „Ungenügend“ stand mit roter Tinte darunter geschrieben und als Zusatz die Bemerkung: „Aufsatz nicht selbst gefertigt, es spricht die ersichtliche Mitwirkung eines Erwachsenen daraus!“. Der Lehrer nahm mich ins Gebet und versprach mir Straffreiheit, wenn ich den Helfer nennen würde. Wie gerne hätte ich das getan, um einer Züchtigung durch den Lehrer zu entgehen, das war mir aber nicht möglich, da ich den Aufsatz allein verfasst hatte. So musste ich also eine unverdiente Züchtigung anstelle einer ehrlich verdienten guten Quote hinnehmen. Mit welchen Gefühlen ich den Heimweg antrat, brauche ich wohl nicht zu erwähnen. Was der Lehrer mit roter Tinte geschrieben hatte, war maßgebend für die Eltern, da gab es gar kein Deuteln. Die doppelte Portion blieb auch nicht aus, meine Beteuerungen der Wahrheit machten es nur noch schlimmer. Vaters These lautete: „Einmal mehr ist immer noch besser, als einmal zu wenig!“.                       

Eine Ehrenrettung, die die Bestrafung jedoch nicht ungeschehen machte, wurde mir aber doch noch zuteil. Am Stammtisch „Zur alten Post“ war „mein Fall“ zur Aussprache gekommen. Onkel Schön, einer der besten Menschen, dem ich mein Leid geklagt hatte, hatte sich für mich eingesetzt und führte ohne mein Wissen den Wahrheitsbeweis durch. Dazu hatte sich ihm bald Gelegenheit geboten.

Eines Tages kommt mir der Pseudoonkel auf dem Schulwege entgegen und sagt: „Dicker! Naumann sein Hund hat Dir eines Deiner besten Kaninchen tot gebissen und verschleppt. Das lässt Du Dir nicht bieten. Es ist ein Kettenhund, der nicht frei herumstromern darf. Er war auch ohne Maulkorb. Schreibe dem Kaufmann einen geharnischten Brief und drohe ihm mit dem Staatsanwalt, falls er Dir das Kaninchen nicht ersetzt.“

Meine Kaninchen waren mir mein alles. Ich war dreizehn Jahre alt und gab dem Onkel meine starken Bedenken wegen der Strafe zu verstehen, die ich bestimmt vom Vater zu befürchten hatte. Onkel ließ nicht locker und verbürgte sich für einen glatten Verlauf der Sache.

„Naumann hat ja viel zu viel Angst vor dem Staatsanwalt“ sagte er zu mir, dabei entnahm er eine Seite seines Notizbuches und notierte mir die angeblichen Paragraphen. „Vergiss die nicht zu erwähnen“, fügte er gewichtig hinzu, „die bringen den ganzen Erfolg!“.

Ich konnte ja nicht wissen, dass die ganze Geschichte schon zwischen dem Onkel und dem Kaufmann verabredet war, um dann am Stammtische “Zur alten Post“, dem auch der Lehrer angehörte, Veranlassung zu einer lustigen und vielleicht auch lehrreichen Unterhaltung zu werden.

Mein totes Kaninchen, die zu erwartende Mark – soviel sollte mir das Tier bringen - , sowie die verbürgte „Straffreiheit“ durch den Onkel, gaben mir den Mut, und ich schrieb! Dazu setzte ich mich in Onkel „Schöns Photografisches Atelier“ und ließ nach entsprechendem „Ansporn“ meinen ganzen Zorn gegen die Leichtfertigkeit des Hundebesitzers und das Gebahren seines verwilderten Hundes vom Stapel. Geholfen hat mir niemand dabei; es wäre auch wirklich nicht nötig gewesen. Wie mir Onkel Schön später mitteilte, hätte die Stammtischrunde meine Urheberschaft noch heute bezweifelt, wenn er sich nicht für die Wahrheit eingesetzt hätte.

Geholfen hatte mir wiederum niemand, es war auch nicht nötig. Ich gäbe gern etwas darum, könnte ich den umstrittenen Schriftsatz zur Erheiterung und Erbauung der Leser wiedergeben. Jedenfalls stand ich glänzend gerechtfertigt da, denn Onkel Schön genoß das größte Vertrauen aller, die ihn kannten; und er hatte sich für mich verbürgt!

Schon am folgenden Tage hatte der Kaufmann seinen Lehrling zu meinen Eltern geschickt und mich zu sich ins Büro bestellt. Ich ging mit recht gemischten Gefühlen zu ihm. Ob die Bürgschaft Onkel Schöns auch den Kaufmann einbezog?

Wider Erwarten wurde ich recht freundlich aufgenommen. „Na Dicker!“ so wurde ich seiner Zeit allgemein genannt, „Es tut mir ja sehr leid, dass Du auf solche Weise Dein schönes Kaninchen losgeworden bist, aber so grob hättest Du doch auch nicht gleich schreiben brauchen. Ich weiß ja, Du hast das von Dir aus nicht getan, Du bist doch immer so höflich. Da hat Dich jemand aufgehetzt und Dir den Brief diktiert. Du kannst mir das ruhig anvertrauen, ich verrate Dich nicht, und Du bekommst außer einer viel schöneren Schecke noch zwei Mark extra!“.

„Nein, Herr Naumann, mir hat bestimmt niemand geholfen! Ich habe mich nur so sehr geärgert, weil es gerade mein bestes Kaninchen war, ich wusste doch auch nicht, dass Sie mir so ohne weiteres ein anderes Kaninchen geben würden, sonst wäre ich doch gleich zu Ihnen gekommen!“

„Na, siehst Du Dicker, da hat Dich doch jemand aufgehetzt, wer war denn das?“

„Onkel Schön hat mir nur gesagt, Ihr Hund habe das Kaninchen tot gebissen und ich könne es bezahlt verlangen, da Ihr Hund als Kettenhund gemeldet sei und nicht ohne Maulkorb auf die Straße laufen dürfe, sonst könnten Sie mit dem Staatsanwalt in Berührung kommen.
Geschrieben habe ich das ganz alleine. Nur die Paragraphen hat er mir angegeben, die konnte ich doch nicht wissen!“

„Das konntest Du natürlich nicht wissen. Ich kann aber kaum glauben, dass so ein kleiner Gernegroß solch guten Briefstil hat!“

„Und ich habe deshalb schon „ungenügend“ in meinem letzten Aufsatz erhalten und Schläge dazu,“ entgegnete ich gekränkt.

Ich durfte mir nun einen Korb holen und bekam mein Kaninchen gut ersetzt und noch eine Mark dazu. Für mich stand es aber fest, solch ungehörigen Brief würde ich nie wieder schreiben. Ich bin denn auch mit Höflichkeit im ferneren Leben viel besser ausgekommen.

Von sechs Geschwistern war ich der Jüngste und hatte mit zwei Jahren, angeblich durch Schreck, einen Augenfehler davongetragen.Ich fühlte mich von allen Menschen unbeachtet und artete dann zum Rüpel aus.Mein liebes Mütterchen habe ich viel geärgert, auch besaß ich einen eidlichen „Dickkopf“-.- Meine bessere Hälfte behauptet, ich hätte noch heute „Kopfweite 58“ -.

 Als ich zur Schule kam, schwoll das Köpfchen noch mehr an. Sollte ich einholen gehen, musste ich widersprechen. Hatte der Inhalt des Gurkenfasses oder Käsetopfes verdächtig abgenommen – wir waren neun Tischgäste und hatten stets einen größeren Vorrat am Lager – und Mutter forschte nach dem Übeltäter, so stritt ich ab, auch wenn ich der Bösewicht war. Die Prügel wurden dann oftmals verteilt und fielen nicht allzu hart aus. Waren in der Nachbarschaft Obstbäume geschüttelt oder gar Fensterscheiben zertrümmert, so war ich wohl immer unter den Verdächtigen, obwohl ich „nur einige Male“ dabei war. Kam ich aus der Schule und Mutter mahnte zu den Schularbeiten, dann hatte ich bestimmt „keine auf“. Draußen warteten ja schon die Schulfreunde auf das „Räuber- und Gendarmenspiel“. Wie lockte da Feld, Flur und Wald. Anderntags wurden dann die Schularbeiten in den Pausen verglichen, wobei die Mitschüler die Ergebnisse ansagen mussten, während ich Faulpelz diese als mein Resultat notierte.

Kamen dies „Sünden“ an den Tag, und das war oft der Fall, dann gab es Prügel. Erst vom Lehrer, dann wegen Lügens von der Mutter, und wenn Vater abends nach Hause kam, nochmals von diesem. Da waren die Schwielen, oft aufgeplatzt, - geholfen hat es nichts.

Die schlimmsten Prügel, nach denen ich fast 14 Tage nicht sitzen konnte, hatte mir folgende Unart eingebracht:
‚Mein Bruder Richard und ich hatten neue Tiroler Hüte bekommen und führten diese stolz auf einem Spaziergang zur Saale aus. Unterwegs neckte mich mein Brüderlein und stieß mir den Hut vom Kopfe. Der Hut fiel in das Gebüsch des Saaleufers und blieb dort liegen, da keiner von uns Rüpeln den Hut aufheben wollte.

Wir kamen nach Hause und ich klagte mein Leid der Mutter. Da bekam der ‚Knüppel’ Arbeit und Mutter prügelte uns die Treppe hinunter bis auf die Straße. Wie konnten wir da laufen.

Am Saaleufer angelangt, war der Hut verschwunden. Den Heimweg von etwa 1 Kilometer legten wir in einem ‚Rekordtempo’ von 2 – 3 Stunden zurück. Was uns bevorstand, war uns klar, wir hatten das Strafmass noch unterschätzt.
Unbarmherzig sauste der Rohrstock auf den nackten Hintern bis es auch der Mutter zu viel wurde und sie den Vater um Nachsicht bat.’

Wie oft in meinem späteren Leben habe ich mir bittere Vorwürfe gemacht über alle diese Unarten und wie glücklich war ich, wie ich den Eltern in ihrem hohen Alter - sie starben mit 84 und 86 Jahren – so manches Gute erweisen und Ihnen den Lebensabend so recht verschönern konnte.

Seit meiner Schulentlassung hatte ich mich innerlich sehr zu meinem Vorteil geändert, wenn auch der Rüpel noch manches Mal zum Durchbruch kam.

Als meine Eltern schon hochbetagt waren, fragte ich einmal meinen Vater, warum er uns als Kinder so furchtbar bestraft habe; da bekam ich folgende drastische Antwort: „Ja, mein lieber Junge, jetzt kann ich Dir’s ja anvertrauen. Ich bin so gut wie ohne Eltern erzogen worden. Der Vater in Russland verschollen, die Mutter in Königsberg in Ostpreußen, ich selbst wurde bei Verwandten im Spreewald hin- und hergeschoben, lieblos und liebeleer. Da bin ich denn ein ‚richtiger Strolch’ geworden. Damit Ihr nun nicht in meinen Fußstapfen wandeln solltet, habe ich Euch so streng gehalten!“

Vater berichtete mir anschließend die größte ‚Freveltat’ seiner Jugend, die ich den lieben Lesern nicht vorenthalten möchte:
„Ich war zu einem weitläufigen Verwandten im Spreewald in die Kammmacherlehre gekommen“, erzählte mein Vater, „und wurde wie das in früheren Zeiten üblich war, mehr mit Kinderwarten, Wegelaufen, Schuheputzen, Strasse-, Hof- und Ställereinigen als in meinem Handwerk beschäftigt. Schläge gab’s bald mehr als zu essen, so dass ich große Sehnsucht nach meiner in Königsberg lebenden Mutter bekam. Ich hatte lange Zeit nichts von ihr gehört. An wen sollte ich mich aber sonst in meiner Seelennot wenden?

Es war an einem schönen Herbsttage, die Natur hatte die Blätter in allen Schattierungen vom Zitronengelb bis ins Rostrot gezeichnet, leichter Wind rauschte durch die Bäume und schüttelte seine vergängliche Farbenpracht zu Erde, da musste ich wieder einmal die Kinder der Meistersleute ausführen.
Das Jüngste war etwa ein Jahr alt und lag noch im Wagen.

Unterwegs traf uns der Pfarrer, ein alter, freundlicher, ehrwürdiger Mann. Er war auf dem Wege zu einer Schwerkranken und fragte mich, wie schon so manches Mal, nach Vater und Mutter. Ich konnte ihm nur berichten, dass ich von beiden nichts wisse. Seine lieben mitfühlenden Worte erweckten in mir erneut Sehnsuchtsgefühle.

Tränen stahlen sich über die Wangen, der Pfarrer war weitergegangen, ich achtete kaum noch auf die mir anvertrauten Kinder. Eine Schar Zugvögel flog auf dem Wege in ihre wärmere Heimat über uns hinweg, dem sonnigen Süden zu. Ging es nicht manchen dieser jungen Vögel wie mir? Blieben da nicht auch welche zurück, die zu schwach waren und von Ihren Eltern verlassen werden mussten?

Nein, ich war nicht zu schwach, ich musste meine Mutter wiedersehen! Herzzerbrechend weinend, von den spielendenden Kindern unbeachtet, ließ ich mich am Waldrand nieder. Wenn doch die lieben Mutterhände mich streicheln und trösten könnten.

Ein jäher Windstoß riss mich aus meinen Träumen, graue Wollen, die über die Sonnenscheibe zogen und den Glanz der Erde trübten, erinnerten mich an den Heimweg.

Seelisch zermürbt brachte ich die mir anvertrauten Kinder zurück. Kaum saß ich auf dem Werkstattschemel, als die Meisterin kam und loszeterte: „Du fauler Hund, hast wohl vor Spielerei nicht mal so viel Zeit gehabt, nach der Kleenen zu sehen, die liegt ja bis an den Hals im Dreck, Dir müsste man die Windeln um die Ohren schlagen“.

Das war kein Balsam auf meine Wunden und wurde mir zu viel. Der Meister war ‚auf Kundschaft’, und so antwortete ich derb flegelhaft: „Na, ich bin’s doch nicht gewesen, wenn ich das gemacht hätte, wär’s mehr geworden!“
Natürlich erhielt ich nach der Rückkehr des Meisters meine Prügel und durfte nach kargem Abendessen zu Bett gehen.
Da lag ich nun wach und beschloss, sobald wie möglich, meine Lehre zu verlassen und die Mutter aufzusuchen.

Das war sehr gewagt. Es gab fast noch keine Eisenbahnen, Geld hatte ich auch nicht und so an die 700 Kilometer sollten es bis Königsberg sein. Es war wohl doch nicht möglich -, wie sollte ich auch fortkommen?
Schneller als gedacht sollte mein Traum in Erfüllung gehen.

Die Meistersleute waren zu einem Vergnügen eingeladen, und ich hatte, wie stets in solchen Fällen, anstatt mein Bett hinter dem Lattenverschlag auf dem Boden aufzusuchen, bei den Kindern zu bleiben.

Der Abend kam heran, und nach vielen Ermahnungen und Warnungen durch den Meister, war ich mit den Kindern allein.
Ein leichtes Bündel mit den wenigen Habseligkeiten war schon seit Tagen gepackt und die zu passierenden Ortschaften aufgezeichnet. Vom Nussbaum hatte ich mir einen Reisestecken geschnitzt.
Jetzt, wo die Kinder schliefen und ich die Nacht hinaus sollte, wurde mir doch etwas gruselig zu Mute. War es nicht besser, ich blieb zurück - ? Ich stand am Fenster und suchte das Wetter zu erforschen, da trat hinter einer Wolke der Mond hervor und schien mir, freundlich und verschmitzt zugleich, zuzuwinken: „Komm sei ohne Sorge, ich führe und begleite Dich zu Deinem Mütterchen!“

Sehsucht riss mich hoch, ich hatte schon das Fenster zur Flucht geöffnet, denn durch die verschlossene Tür konnte ich nicht entkommen, da kam mir ein hässlicher Gedanke.
Ein Andenken musste ich hinterlassen, an das der Meister und ich zeitlebens denken sollten – aber was? Ich dachte an das kleine Mädelchen, an die Prügel, die ich bei jeder kleinen Gelegenheit bekam, an all die Lieblosigkeit, aber auch an die flegelhafte Antwort, die ich der Frau Meisterin vor kurzem gegeben hatte.
Da hellte sich mein Gesicht auf, wie vorhin der Mond. Mein Entschluss war gefasst.
Auf ein Stück Papier dichtete ich in zynischer Ironie folgendes Verschen:

Ich kenne nur Schläge, Hunger und Durst,
mit ‚Dank’ muss das Haus ich verlassen;
was auch geschieht, jetzt ist es mir Wurst,
mit ihr sollt Ihr lang’ Euch befassen.

Was soll ich noch um den Brei herumgehen! Tiefste Verbitterung hatte mich gegen die lieblose Verwandtschaft ergriffen, denen ich mich nie anvertrauen durfte, ohne verhänselt oder bespöttelt zu werden.. Ich lenkte meine Schritte zur ‚Guten Stube’, stieg auf den blankpolierten mit einer Handarbeitsdecke verzierten Tisch und machte eine kurze Kniebeuge. Als ich wieder zu ebener Erde stand, verzierten, gleichzeitig als Ausdruck tiefster Verachtung gegen die mir bisher gewordene Behandlung, duftende Kakteen, die ich vorsorglich gleich angegossen hatte, wie abgezirkelt die Mitte des guten Tisches -.
Es war ziemlich spät abends, als ich das Haus durch das Fenster verließ. Unter schwersten Entbehrungen und Hunger bin ich nach fast acht Wochen langer Wanderung unter Zuhilfenahme der Königsberger Polizei bei meiner Mutter gelandet.
Um alle Hoffnungen aber, die ich in Sehsucht an das Wiedersehen mit meiner Mutter geknüpft hatte, wurde ich betrogen.
Nach kaum 8 Tagen wurde ich wieder nach dem Spreewald, wenn auch nach einem anderen Orte und weniger lieblosen Menschen abgeschoben.
Die Mutter fehlte mir sehr. Etwa 60 Jahre später stand ich vor ihrem Grabe, selbst ein alter Mann von 76 Jahren.
Mein lieber Junge, kannst Du es verstehen, dass ich Euch so hart angefasst habe?“
So schloss mein Vater seinen Bericht.

Nun, ich konnte es nicht verstehen, war meinem Vater über die oft harten Strafen jedoch nie gram -; ich hatte gelernt, wie man Kinder nicht erziehen soll.

Meine Schulzeit ging ihrem Ende zu und daheim wurde die Berufsfrage über mich erörtert.
Kaufmann durfte ich nicht werden, da die Kenntnisse dazu nicht ausreichen sollten. Ich wusste wohl, dass der wahre Grund für die Ablehnung dieses Wunsches mein Augenfehler war und war darüber, wie schon so oft im Leben, sehr verbittert.
Also fasste ich den Entschluss, Bäcker und Konditor zu werden; einzig in den Gedanken an Pfannkuchen, Windbeutel und sonstige Leckereien. Dieser Entschluss fand auch die Zustimmung meiner Eltern, und ich durfte selbst die Lehrstelle aussuchen.

Als Knirps von 52 Pfund ‚Schwergewicht’ tat ich bei Meister Schlaeger in die Lehre, voll Zuversicht, nun endlich der fast täglichen Prügel in Schule und Elternhaus entronnen zu sein.
Die ersten 14 Tage wurde ich geschont, dann wurde ich in den vollen Arbeitsprozess eingeschaltet.
Die damals durchschnittliche Arbeitszeit betrug täglich 16 Stunden und wurde erst Jahre später behördlich auf ‚nur’ 12 Stunden herabgesetzt.
Sonntagsruhe gab es nicht. Da wir aber Sonnabend nachts schon ab 12 Uhr arbeiten mussten, hatten wir sonntags um 2 Uhr nachmittags Feierabend. Wenn wir dann nicht allzu müde waren, durften wir u den Eltern gehen. Um 8 Uhr abends mussten wir wieder n der Werkstube sein und konnten uns nach 1 ½ stündiger Arbeit und Abendessen zu Bett begeben.

Um 2 Uhr war für uns die Nacht zu Ende und wenn dann dem Lehrling mitten n der Teigbereitung der Kopf herabsank, so dass er der Gegenwart auf Sekunden entrückt war, weckte ihn ein derber ‚Anranzer’ oder gar ein Tritt in die Kniekehle aus der Bewusstlosigkeit und ließ die im Teig steckenden Hände erschrocken weiterkneten.

Ich war von jeher ein ‚Pechvogel’, und auch in der Lehre verließ mich die ‚Pechsträhne’ nicht. Waren Meister und Geselle in Meinungsverschiedenheiten geraten, so musste der Lehrling als Prügelknabe hinhalten, versah der Lehrling gar selbst etwas, dann kannte das meisterliche ‚Züchtigungsrecht’ oft keine Grenzen.

Einen solchen, heute fast unglaublichen Fall möchte ich den Lesern nicht vorenthalten, da er so recht in die Umrahmung meines Werdeganges hineinpasst:

Zwei Jahre Lehrzeit hatte ich hinter mir, da ließ mich der Meister zu sich rufen und eröffnete mir: „ Du hast mich die ersten beiden Lehrjahre nur Geld gekostet; mit Deinen Leistungen bin ich, der Lehrzeit entsprechend, zufrieden. Da ich den Gesellen entlassen will, musstest Du voll für ihn einspringen. Du bekommst jeden Sonntag Deinen ‚Fünfziger’ – 50 Pfennig (25 Euro) – also feste ran an die Arbeit! Das war viel für mich.
Ein Geselle bekam, Wohnung und Beköstigung nicht gerechnet, drei Mark (1,50 Euro) pro Woche.
Es gab schwerste Arbeit für mich gewesen.

Obwohl ich mit 17 Jahren nur 74 Pfund (37 kg) Gewicht hatte, musste ich mich mit schweren Säcken plagen. Arme und Hände wollten oft den Dienst versagen, wenn sie den festen Brotteig von 1 1/2 Zentner Mehl (75 kg) durchkneten mussten, der Schweiß lief nur so am Körper herunter.
Vier Wochen arbeitete ich schon mit dem Meister allein, da hatte ich mir eines Tages eine fieberhafte Erkältung zugezogen.
Zu Bett legen - ? Das war einfach unmöglich. Es wurde eine schwere Nacht für mich, die schwerste meines Berufes.

Ich hatte den Backofen geheizt und glaubte beim ‚Einfühlen’ der Hitze den Ofen überheizt. Fiebrig, wie ich war, verständigte ich den Meister, der gerade Teig knetete, sagte ihm jedoch, dass ich mich in meinem Zustande vielleicht täusche. „Na dann ziehe doch kurze Zeit zwei Röhren, um die Hitze abzulassen, Du wirst doch allein wissen, was da zu machen ist!“  Meinen Einwand, dass ich Fieber habe und unsicher wäre, ließ er nicht gelten. Es war Zeit, dass die Backware in den Ofen kam, eine Arbeit, die der Meister selbst verrichtete, während ich zureichte.

Kaum hatte der Meister den Ofen geöffnet, da fluchte er los und schimpfte über die fehlende Hitze. Sowie er einen Schieber Semmeln im Ofen abgesetzt hatte, stieß er mit diesem nach mir oder schlug mich damit über Kopf und Gesicht. Ich fühlte mich kaum noch als Mensch.
Die Brötchen brauchten etwas länger zum Backen als sonst und waren auch nicht so braun.
Beim Herausnehmen der Backware musste ich dabei sein, um diese noch in voller Hitze mit Wasser zu streichen (zu glänzen !). Hierbei geriet der Meister erst in richtige Wut, er schleuderte mir die heiße Ware schieberweise ins Gesicht und schlug mich beim Bücken und Auflesen der Brötchen mit dem Schieber zu Boden.

Die Meisterin war inzwischen aufgestanden und kam zur Hilfe in die Bäckerei. Sie sah die weniger braune Ware, hörte den Meister toben, sah auch mich in meinem Zustand du sage zu mir: „Du stinkiches Aas hast wieder den Meister geärgert, wie sehen bloß die Semmeln aus - ?“ Wie ich aussah, hat sie mir nicht erraten. Die Wut des Meisters war verraucht und mit den liebenswürdigen Worten „Mach, dass Du in’s Nest kommst, verfluchter Hund, ich will Dich hier unten nicht mehr sehen!“ durfte ich schlafen gehen. Ich schleppte mich in meinen Lattenverschlag auf dem Boden.

Frühstück durfte ich nicht austragen, es wäre mir auch nicht möglich gewesen. Fiebrig, matt und zerschlagen, kaum fähig, die Kleidung abzulegen, sank ich auf mein Lager und kam erst wieder zu mir, als Maria, das Hausmädchen, das Mittagessen an mein Bett brachte und mich wach rüttelte.

Das Essen musste sie wieder mit fortnehmen. Als ich Kaffee bekam, teilte sie mir mit: „Du sollst einige Tage keine Ware austragen, dass soll ich tun! Hast Du denn schon in den Spiegel gesehen, wie Du aussiehst?“ Sie brachte mir einen Spiegel aus ihrem Kämmerchen -. Nun wusste ich, warum ich plötzlich „so gut“ behandelt wurde und keine Ware austragen sollte. Marias Augen waren feucht, als sie mir anriet, mich anzuziehen und zu den Eltern zu gehen. Sie war mir behilflich und wollte aufpassen, dass ich unbemerkt das Haus verlassen konnte. Schwäche und Angst vor dem Vater ließen mich zwar zögern; größer war jedoch die Angst, vor dem an Epilepsie leidenden Meister geworden.
Der Meister schlief, die Meisterin verkaufte im Laden und Maria, die stets anständig und nett zu mir gewesen war, lotste mich heimlich auf die Strasse.

Ich muss mit meiner sauberen weißen Jacke, der weißen Schürze und Konditormütze und dem verbeulten Gesicht recht komisch gewirkt habe, da mich die Menschen, denen ich begegnete, so auffällig ansahen. Ganz erschreckt aber war die Mutter, als ich ihr daheim begegnete.
Ich schilderte ihr alles, was gewesen war. Mit blanken Augen begab sich die Mutter zum Vater, um ihn „vorzubereiten“. Als ich dann zu Vater gerufen wurde und er mein fiebriges, entstelltes Gesicht sah, zog er mich – zum ersten Male, soweit ich mich erinnern kann – an sich und streichelte mir den Kopf. Das tat doppelt wohl, da ich den Vater bis jetzt nur streng und ernst kannte.

Der Arzt wurde geholt, ich musste nochmals erzählen, dann hörte ich den Arzt sagen: “Man müsste dem Meister das Lehrlinghalten entziehen“. Die Angelegenheit wurde auch der Aufsichtsbehörde zur Kenntnis gegeben, doch hat mein Vater von allen Weiterungen gegen den Meister abgesehen – angeblich, um ihn nicht zugrunde zu richten.
Zurück brauchte ich nicht mehr; ich bekam eine zweite Lehrstelle und war sehr zufrieden, so auch der neue Lehrherr mit mir.


Die Lehrzeit war abgelaufen. Mit dem Gesellenbrief in der Tasche begab ich mich auf ‚Wanderschaft’.
Unter ‚Wanderschaft’ darf sich der Leser von heute nun nicht ein Lodderleben vorstellen. War die Lehrzeit beendet, so war die Wanderschaft ein – wenn auch unverbrieftes – Zunftgesetz. Mein Gesellenbrief enthielt am Schluss die vielsagenden Worte:

„Wandere und lerne weiter!“

Ein Meister, der keine Wanderschaft hinter sich hatte, war einfach undenkbar. Also auch ich wanderte, und wandern heißt laufen. Mit 12 Mark in der Tasche, den ‚Berliner’ (das ist eine Rolle mit der allernötigsten Wechselwäsche und etwaigem Handwerkszeug) auf dem Rücken und einen Stecken in der Hand marschierte ich eines Tages mit Sonnenaufgang stolz und selbstbewusst zum Städtchen hinaus in Richtung und mit dem stolzen Ziel Rheinland.

Wenn dann das Licht gespart werden musste und wir im Familien- und Freundeskreise gemütlich beieinander saßen; wenn das aufloderne Herdfeuer spielende Ringe an Decken und Wände zeichnete, erzählte ich oft aus der Vergangenheit.
Auch heute wurde ich gebeten, die Schummerstunde in dieser Weise angenehm zu verkürzen.

Die Zuhörer waren dann ganz Ohr und von dem Gehörten meist so erbaut, dass sie mir – und das nicht zum ersten Male – nahelegten, meine Erlebnisse in Buchform wiederzugeben.Erst auf das Bitten meiner Eheliebsten gebe ich diesem Wunsche nach und bringe die Plaudereien langer Winterabende in Buchform zum Besten.

Es war Anfang Mai, die Sonne erschien als rotglühende Kugel am Firmament, Lerchen stiegen mit tririlierendem Gejauchze zur Höhe, als wollten sie der Sonne zuvorkommen, und auch der Kuckuck ließ seinen schelmischen Lockruf erschallen.
Unter der taufrischen Flora wiegten Himmelschlüsselchen ihre goldigen Köpfchen, als wollten sie mir die ganze Welt erschließen, und in vielen Windungen durchzog die vielbesungene Saale Wald, Flur und Feld. Ein Lied aus der Schulzeit kam mir ins Gedächtnis und aus übervollem Herzen erschallte es von meinen Lippen: „Wer recht in Freuden wandern will, der geh der Sonn entgegen, da ist der Wald so kirchenstill, kein Lüftchen mag sich regen....“. Tief atmend erweitert sich die Brust in seelischem Empfinden.
Zeichnung: Ursula Riekenberg

Von ferne läuteten die Glocken eines Dorfes das beginnende Tagewerk ein und es war mir, als gelte dieser feierliche Glockenschlag der schon so lange und schmerzlich ersehnten Freiheit.

 Mehrere Stunden war ich gewandert, da stellte sich, ein fast die Stunden entweichender Hunger ein. Eine Wurst und ein Bündel belegter Brote hatte mir die Mutter mitgegeben und dazu gesagt: “Wenn Du unterwegs Heimweh bekommst, isst Du jedes Mal eine ‚Bemme’ (Scheibe Brot), dann vergeht das Heimweh!“

Solange wollte ich denn doch nicht warten, denn dann würde das Brot schon längst vertrocknet sein. Ganz in der Nähe war ein Bach, der sich durch sein schwatzendes Plätschern einladend bemerkbar machte. Dort ließ ich mich nieder, schnürte meinen ‚Berliner’ auf und entnahm ihm den Becher, um die Gastfreiheit des Baches auszunutzen. Wein kann nicht klarer sein, dazu dickbelegte Brote und die mit Frühlingsblumen dicht geschmückte Riesentafel der Natur, auf der ich in Ermangelung jeder Sitzgelegenheit in unästhetischer Weise Platz nahm -, an keine Zeit gebunden.

In weiter Ferne erblickte ich eine größere Ortschaft, dort musste es Bäckereien geben, da musste ich den Wert des Gesellenbriefes erstmalig ausprobieren, um die mitgeführte Barschaft, die nur einen „Notpfennig“ darstellen sollte, nicht anreißen zu müssen.

Der Lehrmeister hatte schon oft von den Sitten und Gebräuchen auf der Wanderschaft erzählt und in der Backstube vorsprechende Gesellen gaben die Bestätigung.

Froh und gesättigt verließ ich den ‚Gasthof zur blühenden Wiese’ und war bald in der gesichteten Ortschaft angelangt. Ungewohnt im ‚Anspruch’ (Vorsprechen beim Meister) betrat ich klopfenden Herzens, doch im Bewusstsein der Gesellenwürde den Laden: „Gott schütze das ehrsame Handwerk, Frau Meisterin, kann ich Arbeit bekommen?“ Letzteres war aber nur eine Anstandsfrage.

„Mit Gottes Schutz ist’s schon so, aber was willst Du denn arbeiten?“ Stolz legte ich den Gesellenbrief und das Wanderbuch vor.
„Mein Gott, Geselle sind Sie auch schon, dann entschuldigen Sie mal das Du.
Meister, komm doch mal vor!“
Der Meister kam, musterte mich von oben bis unten, prüfte die Papiere und sagte: „Na, Du bist ja ein kleiner Kerl, sei tapfer und Glück zu, Geselle“.
Jetzt war ich erst richtig stolz. ‚Geselle’, hatte der Meister zu mir gesagt und 3 Pfennige nebst 2 Semmeln hatte ich auch noch auf den Weg bekommen.

Noch zwei Meister waren im Orte, die ich ebenfalls aufsuchte. Beim letzten wurde ich auch in die Backstube zu den Gesellen geschickt, die mich ersichtlich auch nicht für ‚voll’ ansahen. Gesellenbrief und Wanderbuch verfehlten auch hier ihre Wirkung nicht.

Um 13 Pfennige und 6 Brötchen bereichert, verließ ich den Ort „meines ersten Wirkens“.
Das Wanderbuch hatte den ersten Herbergsstempel. Man hatte darauf zu achten, dass jeder Tag durch einen neuen Stempel nachgewiesen wurde bzw. Übernachtungen im Freien genau eingetragen waren, sofern man nicht Unannehmlichkeiten mit der Polizei haben wollte.
Unbeschwert setzte ich meine Reise fort und sollte auf ihr viele Erfahrungen sammeln, aber auch viele Erlebnisse durchmachen. Einige der letzteren will ich zum Besten geben.

Die Kunden (Wanderburschen) haben eine eigene Sprache, die der Polente (Polizei) bekannt ist und die ich in meinen Plaudereien einmalig erläutern will. Ein ‚Katzhoff’ (Schlächter), dem ich als ‚Lehmer’ (Bäcker) bekannt geworden war, bot sich mir als Begleiter auf der weiteren Wanderschaft an. Wir verabredeten uns auf ‚Kippe’ (Teilung der Sachspenden).

Früh am nächsten Morgen walzten (wandern) wir los. Leichte Wolken bedeckten den Himmel und schoben sich ab und zu über die Sonne. Es kann ja nicht alle Tage Sonnentag sein. Trotzdem wanderte es sich herrlich. Wo Bäcker und Schlächter als ehrliche Gesellen zusammenhalten, gibt es genügend Semmeln und Wurstzipfel. Wir hatten auch nie ausgesprochenen Hunger. Mittagessen gab es manchmal auf dem Lande, man musste sich nur hüten zu betteln, das konnte gefährlich werden. Wir hatten das schon als Kinder nicht getan, da hatten wir höchstens die Tante gefragt: „Nicht wahr, Tante, man darf doch nicht betteln, wenn Du Geld hast, bringst Du uns schon allen etwas mit!“

So ungefähr ging es auch auf der Wanderschaft. Hatten wir Verlangen nach einem warmen Mittagessen – Sonntags hatten wir das stets - so gingen wir zu einem Bauern und fragten bescheiden, ob wir uns nicht ein Mittagessen ‚verdienen’ könnten. Hatten wir dann unseren Beruf genannt, dann lachte der Bauer oder die Bäuerin zwar, warmes Essen fiel aber meistens ab.

Einmal hatte ich ausgesprochenes Pech. Es war wieder einmal Sonntag. Um die Mittagszeit durchwanderten wir eine kleinere Stadt, Bratendüfte ließen ns das Wasser im Munde zusammenfließen und wir beschlossen ‚der Eine die linke, der Andere die rechte Straßenseite abzuklopfen. In zwei Häusern hatte ich mich schon vergebens nach einer ‚kleinen Hausarbeit!’ für ein Mittagessen erkundigt, da hörte ich in einem anderen villenähnlichen Gebäude Geschirrklappern. Hier war man bestimmt mit dem Essen fertig und ‚Reste’ sind dann doch meistens übrig.

Wohlgemut betrete ich das Häuschen und ziehe die Glocke. Eine jüngere recht vertrauenerweckende Frau öffnet, und ich trage bescheiden mein Anliegen vor. Die Frau mustert mich, lächelt und sagt: „Na, Sonntags und unter der Mittagsruhe können Sie doch kein Holz hacken, kommen Sie schon rein, ich werde auch so etwas übrig haben.“

Ich durfte in die Küche treten, mich an den Tisch setzen und bekam reichlich Kartoffeln und Fleisch vorgesetzt. Es war in der ersten Zeit meiner Wanderschaft und ich schämte mich doch, so unzweideutig ‚gefochten’ (gebettelt) zu haben.

Die Frau hatte wohl Vertrauen zu mir, denn sie ließ mich in der Küche allein. Da fasste ich schon ungenierter zu. Der Teller war fast leer, als die Tür sich erneut öffnete und ein – Gendarm eintrat, im Drillichrock, den strammen Schnauzer (Bart) hochgezwirbelt und seinen nicht gerade aufmunternden Blick auf mich gerichtet.

„Was machst Du denn da?“
Ich war vor Schreck sprachlos und wusste nicht zu antworten.
„Du hast doch gebettelt, mein Junge, na da iss mal den Teller schön ab, ich will mich nur fertig machen, dann wirst Du einige Wochen fasten!“

Der Wachtmeister – es war der Ehemann der Frau, die mich so freundlich angelächelt und bewirtet hatte – nahm mir die Ausweispapiere ab und verließ die Küche.
Kalter Schweiß rann mir die Stirn herunter. Was sollte nur daraus werden? Der Vater war bei der Verwaltung tätig und stadtbekannt, würde erfahren, dass sein Sohn wegen Bettelei im Gefängnis sitzt? Das durfte nie sein, das wäre in der Heimat ein Stadtklatsch geworden.

Auf Vater’n, der uns so überstreng erzogen hatte, würde man mit den Fingern zeigen – armer Vater!
Scheu sehe ich mich um. Die Küche hatte zwei Türen, eine davon ging nach dem Flur.
Blitzschnelle Gedanken durchziehen das geängstigte Hirn. Schnell den letzten Bissen heruntergewürgt, aber ach -, der Wachtmeister hatte mir ja schon die Papiere abgenommen, eine Flucht war zwecklos unmöglich.
Den Gendarm um Freilassung bitten -? Das wäre Unsinn; ein Beamter, noch dazu mit solchem Schnauzbart und unbestechlichen Blick lässt keinen ‚Verbrecher’ laufen. Ich hatte doch gar nicht gebettelt, hatte doch nur ein Essen verdienen wollen -.

Weiter kam ich mit meinen Gedanken nicht. Die Tür ging auf. Die Frau, die mich mit so freundlichem Lächeln ‚in die Falle’ gelockt hatte, trat ein, hinter ihr der Wachtmeister.
„Na, abgegessen hast Du ja, hast Du noch Hunger?“ „Nein, Herr Wachtmeister, lassen Sie mich“ – „Stille, kein Wort! Frau, gib dem Fechtbruder noch eine Tasse Kaffee. Wenn er fertig ist, sagst Du mir Bescheid.“
Mein Peiniger verschwand durch die Tür, ich bekam eine Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen. „Frau Wachtmeister“, bettelte ich, „wollen Sie nicht ihren Mann für mich bitten, was sollen nur meine Eltern sagen?“ Ein Lächeln auf ihrem Gesicht, „trinken Sie mal ihren Kaffee!“

War es denn möglich, dass eine Frau so schlecht ist und einen anständigen Wanderburschen mit der freundlichsten Miene ins Gefängnis bringt, nur um ihren Manne zu einer Anzeige zu verhelfen?
Inzwischen hatte ich ausgetrunken, der Beamte trat wieder ein, Helm auf, Handschuhe an, meine Papiere in der Hand.
„Nun sag mir mal schnell Deinen Namen!“ „Wann und wo geboren?“
„Am 7.4.1880 in Merseburg“
„Und jetzige Wohnung bei Mutter Grün? Na, wird anders werden!“

Seine Hand fasst in die Hosentasche, eine Kette rasselt, mein Blick geht vor Scham zur Seite, bin ich denn schon zum Verbrecher gestempelt? Entschlossen beiße ich die Zähne zusammen und drehe mein Gesicht dem Polizeigewaltigen zu. Der ?- reicht mir die Papiere, drückt mir nicht die Kette, sondern 15 Pfennige in die Hand und sagt: „So, alter Kunde, Deine Strafe hast Du weg, satt bist Du auch, nun trolle Dich, dass du aus der Stadt rauskommst und nicht mehr fechten - !“

Wie ich mich bedankt habe und wie ich wieder auf die Strasse gekommen bin, weiß ich nicht mehr, nur dass die Sonne, die gerade hinter einem Wolkenschleier hervortrat, mich so freundlich umstrahlte. Trotz ausgestandener Angst empfand ich Dank und Wärme für die Bewohner des kleinen Hauses, das ich soeben verlassen hatte.

Mein Wandergefährte wartete schon am Ausgang der Strasse, er hatte bei einem Meister gut abgeschnitten. Gesättigt und an Erfahrungen reicher zogen wir unseres Weges.

Wenn wir auch keine Nahrungssorgen kannten, die Bleibe (Nachtlager) machte uns schon mehr Sorgen. Es war keine Seltenheit, dass wir im ‚Hotel’ Waldesluft, Wiesental oder, wenn Glück hatten, im ‚Gasthof zum molligen Heuschober’ übernachten mussten. Diese Freistätten der so gastfreundlichen Natur setzen jedoch warme und trockene Nächte voraus, allein hätte ich sie nicht aufgesucht. Regnete es wirklich einmal, so nutzten wir die Erfahrungen alter ‚Kunden’ aus. Wir wanderten dann bis kurz vor ein Dorf, lagerten uns bis zum Einbruch der Dunkelheit so gut oder schlecht das eben ging und suchten dann den Ortsgewaltigen auf, der nach einer alten Bestimmung Obdachlose nach Sonnenuntergang nicht abweisen durfte.

Der Gemeindevorsteher stellte nach Prüfung der Papiere einen Übernachtungsschein für den Gasthof aus, auf dem wir morgens auch Kaffee bekamen. Diese Übernachtungen fielen ganz verschieden aus und reichten vom Strohlager im Viehstall bis zum Bettgestell auf dem Hausboden.

War jemand länger als 6 Wochen auf der Walze, so hatte er den Gendarm zu fürchten; gegebenenfalls konnte er sogar mit dem Arbeitshaus Bekanntschaft machen, falls er eine amtliche Bescheinigung über eine erfolglose Arbeitsbemühung nicht nachweisen konnte. Die ‚Meistergaben’ fielen knapp aus und die Aussicht auf Arbeit wurde wegen Eintretender Berufsentfremdung immer aussichtsloser. Ein volles Vierteljahr auf Walze war sehr bedenklich und brachte einen in den Verdacht der ‚Speckjägerei’. Natürliche Grenzen wurden der Wanderschaft durch den Winter gesetzt, in welchem gezwungenermaßen meist nur Saisonarbeiter wanderten. Mancher dieser Bedauernswerten hat schon den ‚Schneetod’ erleiden müssen.

Wir hatten dem Städtchen, das mich fast die Freiheit gekostet hätte, mit Riesenschritten den Rücken gekehrt. Am Spätnachmittag erreichten wir einen Waldrand, wo wir uns zur längeren Rast niederlassen wollten. Wir packten unsere Essvorräte aus und ließen es uns gut schmecken. Der Abend nahte und mit ihm dunkle Wolken.

Es war Neumond.
Wollten wir noch beizeiten eine Unterkunft auffinden, so mussten wir schleunigst aufbrechen.
Ein Waldweg nahm uns auf. Stärker und stärker wurde das Waldesrauschen; als wollte es uns mahnen und zur Eile antreiben.
Dunkelheit brach mit Riesenschritten herein.

Eine Stunde waren wir so im Walde gewandert. Wir konnten nicht mehr die Hand vor Augen sehen, und nur noch mit Händen und Füssen tastend, Schritt um Schritt Boden gewinnen.

Das Waldesrauschen war zum Ächzen und Stöhnen geworden, fern rollte ein Gewitter; die ersten Regentropfen fielen. Da verlor ich den Boden unter den Füssen, ich lag in einem schmalen, etwa metertiefen Graben. Durch Zuruf verständigte ich meinen Wandergefährten. Vorsichtig pürschte er sich heran und legte sich neben mich. An ein Weiterkommen war nicht zu denken.
So lagen wir lange eng zusammen, um nicht zu frieren.

Der Sturm ließ nach, Regen setzte ein. Wir waren fast durchnässt, als der Regen endlich aufhörte. Frierend und mit den Zähnen klappernd schoben wir uns Rücken an Rücken gepresst zusammen, um die Körperwärme nicht zu verlieren.
Etwa Mitternacht mochte es sein, als nicht weit von unserer Lagerstatt ein Schuss fiel. Was konnte das wohl sein? Mitten im stockdunklen Walde, wo man die Hand vor Augen nicht sehen konnte und zu dieser Zeit ein Schuss?
Wir konnten lauschen wie wir wollten, nichts rührte sich – sollte ein Unglücklicher in dieser, wie dazu geschaffenen Nacht, Hand an sich selbst gelegt haben? Wie unsagbar schwer musste wohl ein Mensch gelitten haben, um zu solchem Mittel der Erlösung, zum Freitod zu schreiten.
Noch stärker wurde ich vom Frost durchgeschüttelt, unmöglich das Zähneklappern zu verhindern. Wenn doch erst der Morgen graute, damit man sich warm laufen konnte.

Ein Geräusch aus weiter Ferne wurde vernehmbar, es kam näher und näher -, ein Lastwagen. Was tun? Wie sollten wir zu ihm gelangen, ohne auch nur das Geringste zu sehen? Würde der Fahrer uns nicht für Wegelagerer halten und uns mit der Waffe bedrohen, wenn wir so plötzlich im Walde auftauchen? Wir mussten liegen bleiben, der Wagen kam näher. Das Licht der Wagenlaternen durchbrach das Dunkel und in etwa 50 m Entfernung fuhr der Wagen vorbei. So nahe waren wir der Landstrasse und hatten es nicht bemerkt.
Kaum machte sich der Morgen bemerkbar, standen wir auf, schlugen wie frierende Fuhrleute mit den Armen zusammen und wanderten weiter.
Zeichnung: Ursula Riekenberg

Nach etwa 10 Minuten Marsch kamen wir an eine größere Lichtung, von der uns ein ‚Gasthaus zum molligen Heuschober’ freundlichst zum weiteren Verweilen aufforderte. Tief buddelten wir uns in die Freistätte der Natur ein und fanden endlich, übermüdet und fröstelnd, den so ersehnten Schlaf.

Wärmende Sonne weckte uns, wir marschiert weiter. Nach etwa zehn weiteren Minuten hatten wir den Wald durchstoßen und standen vor einem Dorfe. Gleich nach dem ersten Haus statteten wir einen Besuch ab und baten die Bäuerin um Erlaubnis, uns am Brunnen waschen zu dürfen. Es war eine ältere freundliche Frau, die uns sogar ein Handtuch brachte und ahnungsvoll fragte: „In der Herberge, wo Sie übernachtet haben, gab es wohl kein Wasser?“ Ich erzählte treuherzig unser Erlebnis der vergangenen Nacht. „Na, da setzen Se sich mal auf die Hausbank in die Sonne, ich habe gerade frischen Kaffee gekocht.“
Das ließen wir uns nicht zwei mal sagen.

Nach kaum fünf Minuten war unter einer grossen Linde ein sauberes Tischtuch auf dem in die Erde gerammten Tisch gedeckt. Eine große Kanne Kaffee, Brot, Butter und Käse lockten einladend zum Frühmal.

Die Bäuerin setzte sich mit an den Tisch und ermunterte uns zum ungenierten Zulangen. Für so viel Güte musste ich ihr auch von meinem Erlebnis beim Gendarm vom Tage zuvor. Meine Frage, ob wir uns mit einer kleinen Arbeit für die erwiesene Unterstützung erkenntlich zeigen könnten, lehnte sie mit den Worten ab: „Ich habe drei große Söhne, der eine studiert in Jena, der zweite ist zu Hause in der Landwirtschaft und der dritte befindet sich als Schlosser – wie Sie – auf der Wanderschaft. Dass ich Sie so anständig aufnahm, ist nicht so selbstlos wie es vielleicht aussieht. Ich habe bei Ihrer Bewirtung im stillen unseren Herrgott gebeten, er möchte meinen Wanderburschen auch so gut durch die herrliche Welt mit ihren vielen Gefahren führen.“
So sprach eine einfache Bauersfrau.

Ich wollte mich nicht beschämen lassen, innerlich ergriffen wünschte ich ihr und ihren Söhnen ‚Gottes Segen’.
Weiter ging die Wanderung kreuz und quer, wie es uns gerade ratsam erschien. Auf der Landstrasse begegneten uns Walzbrüder. Sie erzählten uns, dass wir bei drei Stunden Marsch an einem Krankenhaus vorbeikämen.
Die Küchenschwester sei sehr anständig und ließe keinen Wanderburschen ungespeist von dannen ziehen.
Es war Sonntag. Vier Stunden waren wir schon getippelt, der Essvorrat war verbraucht, der Magen meldete sich zu Wort, ein Dorf war nicht in Sicht.

Wir mussten durch einen Wald, der vor Monaten von einem geflüchteten Kranken in Brand gesteckt und meilenweit vernichtet war.
Nach einigen Kilometern Fußmarsch sahen wir ein einsames Haus am Waldrand stehen, es war eine Försterei. Beide gingen wir hinein und baten, uns am Brunnen den Durst löschen zu dürfen. Es musste wohl eine Familienfeier sein, denn der Tisch war weiß gedeckt, mit Blumen und reichlich Esswaren bestellt. Ich hatte unsere Bitte noch nicht ausgesprochen, als ein älterer Mann in Forstuniform aufsprang und loswetterte. „Ihr verfluchten Strolche wollt wohl bloß eine Gelegenheit zum Mausen ausbaldowern – raus oder ich hetze die Hunde auf Euch!“ Eingeschüchtert, geängstigt und beleidigt verließen wir den Hof. Das waren also auch ‚Menschen’.

Nun zweigten wir seitwärts in den vernichteten Wald hinein, um das Krankenhaus zu erreichen. Mein Wandergefährte war hinter mir geblieben, holte mich jedoch bald ein und brachte ein Bündel Mohrrüben -!?
Wir haben damit unseren Durst und Hunger gestillt.
Furchtbar war die etwa eineinhalbstündige Wanderung. Nur verkohlte Baumstämme waren zu sehen. Kein Vogel, überhaupt kein Lebewesen ließ sich blicken.
Der Wald war tot.
Anklagend reckte er seine verkohlten Stämme wie Arme zur Höhe, nur selten, wie geängstigt, wagte sich junges Grün aus dem Boden hervor.
Das Krankenhaus war erreicht. Die Küchenschwester, voll beschäftigt, hieß uns, in einer halben Stunde wieder vorzusprechen.
Wir befanden uns in einer Provinzialanstalt und hatten Gelegenheit, viel menschliches Elend zu studieren.
Es war der schwerste Tag meiner Wanderschaft, ein Tag des Grauens vor der vernichteten Natur und vor den lebendig Begrabenen einer Anstalt.

Als wir uns wieder bei der Schwester meldeten, wurden wir gut bewirtet, geschmeckt hat es uns nach all dem Erlebten nicht.
Das Verlangen nach Arbeit und das Glück, in wenigen Tagen einen Meister gefunden zu haben, geboten meinem Wandertrieb ‚Halt’, noch ehe ich das Rheinland erreicht hatte.

In Eisenach hing ich ‚Berliner’ und Wanderstecken an den Nagel. Ich fühlte mich bald recht wohl bei Meister Schmidt und habe so manches dort gelernt. Nach einem Vierteljahr wurde ich schwer rheumaleidend und musste den Meister verlassen.
Während meiner Krankheit war mir der Gedanke gekommen, einen Onkel aufzusuchen, den ich kaum kannte und der ein „schwarzes Schaf“ in der Familie sein sollte.
Meine Verwandten gelten als ‚besser situiert’ und ich glaubte, den in Kiel lebenden Onkel durch sie zu Unrecht weniger geachtet und daher vernachlässigt. Vielleicht konnte ich da etwas ‚gut machen’. Ich hatte gespart und so leistete ich mir eine Fahrkarte 4. Klasse (das gab es seinerzeit noch) bis Kiel, um nach einem Abstecher bei den Eltern, wo ich die genaue Adresse des Onkels erkunden wollte, bis Kiel durchzufahren.

Auf der Fahrt beobachtete ich einige Reisende, die Karten spielten und mit der Zeit einem armen Teufel das letzte Geld abnahmen. Dasselbe Kunststück wollten die ‚Menschenfreunde’ auch an mir ausprobieren, doch winkte ich auf das Bestimmteste ab.
In Gedanken über Glücksritter und Falschspieler versunken, schrak ich zusammen, als der Zug hielt und alles zum Aussteigen aufgefordert wurde.
Der Zug war in Halle und ich hatte meinen Heimatort (Merseburg) achtlos durchfahren.
An der Sperre konnte ich meine Fahrkarte nicht finden und wurde dem rotbemützten Aufsichtsbeamten vorgeführt. Dieser sah mich zwar misstrauisch an, ließ mich aber, nachdem ich ihm erklärt hatte, ich könne die Karte nur im Zug verloren haben, die Wagen nachsehen. Bald kam auch ein Schaffner mit vier Stückchen Pappe an, die zusammengeklebt meine Fahrkarte nach Kiel ergaben. Ich hatte sie wohl gedankenlos zerrissen. Der Versuch, meinen Dank durch ‚Trinkgeld’ abzustatten, scheiterte kläglich. Die Beamten legten ihrerseits zusammen und spendeten mir unter Ermahnungen einen bescheidenen Reisebeitrag.
‚Auch Menschen!’

Ich habe mich über diese Handlung unglaublich gefreut, ahnte ich doch nicht, dass ich später selbst 35 Jahre diese Uniform tragen sollte. Der Vorgang zeitigte reiche Früchte, ich selbst hatte es bis zum Oberbahnhofsvorsteher gebracht und konnte oft helfend eingreifen, wenn ‚Not am Manne’ war.
Die Fahrt ging in Richtung Kiel weiter. Die Adresse des Onkels würde ja im Adressbuch zu finden sein.

Spät abends gelangte ich ans Ziel und begab mich erschöpft sofort zur Herberge.
Am nächsten Morgen holte ich mir den Innungsausweis, um bei den Meistern vorzusprechen. Ich kam an einer Polizeiwache vorbei, trat unerschrocken ein und bat um Einsichtnahme des Adressbuches. Der Beamte wollte mir behilflich sein und fragte nach dem Namen des zu Suchenden.
Ich suche einen Hermann Malpricht, er ist mein Onkel und soll hier in Kiel wohnen.

„Na, dann brauchen wir gar nicht zu suchen, der ist hier auf dem Revier jedem bekannt. Wenn er nicht gerade in Glücksburg sitzt (Gefängnis), kannst Du ihn vielleicht am Hafen treffen. Eine feste Wohnung hat er nicht. Es ist auch besser, Du bemühst Dich gar nicht um ihn, Du bist noch zu jung und könntest leicht unter die Räder kommen.“
„Ja, er ist doch aber mein Onkel, vielleicht kann ich ihn zur Rückkehr nach seiner Heimat bewegen, so heruntergekommen kann er doch gar nicht sein!“
„Na, dann versuch mal’ mal Dein Glück, solchen Menschen ist nicht mehr zu helfen.“
Kiel ist groß, der Hafen sehr ausgedehnt, ich vollkommen fremd, es schien ein aussichtsloses Beginnen.
Ich wollte versuchen, in Kiel Arbeit zu erhalten und dann Nachforschungen anstellen.

Also durchzog ich die Strassen Kiels schon stundenlang von einem Meister zum anderen, ohne jeden Erfolg.
An einer Strassenkreuzung sah ich zwei ‚Speckjäger’ an einer Litfaßsäule stehen, der eine hatte gerade die ‚Buddel’ (Branntweinflasche) abgesetzt und schob diese leer dem anderen zu. Ich hörte ihn sagen: „Hier hast Du ’n Groschen, lass sie drüben wieder füllen.“
Ein Gedanke durchzuckte mich. Wenn Onkel auch zu jenen Unglücklichen gehörte, war er denen vor mir vielleicht bekannt.
Der Aufgeforderte, etwa ein Sechzigjähriger, war schon auf dem Wege zur Destille, als ich seinen Kumpan zunftgemäß ansprach: „Kenn Kunde, ist Dir in Kiel vielleicht ein Malpricht bekannt?“
„Wie heißt er denn mit dem Vornamen!“
„Hermann Malpricht, ehemals Drechslermeister in Merseburg, er ist mein Onkel, ich bin als „Lehmer“ auf der Durchreise“.
„Wie heißt Du denn?“
„Ich bin Berthold, sein Neffe“.
„Na Mensch, schnell hinter die Säule, Hermann lässt gerade die Buddel wieder füllen!“
Ungläubig, überrascht und betroffen verschwand ich hinter der Säule, gerade als der Gesuchte aus der Destille auf der anderen Straßenseite heraustrat und die Schnapsflasche schwenkend den Fahrbahn überquerte. Vielleicht entsinnst Du Dich an Deinen fünfjährigen Neffen, Berthold. Ich stand beschämt und klopfenden Herzens und wartete, was nun kommen sollte. Bald hörte ich folgenden Dialog:
„Sag mal, Hermann, ist Dir ein gewisser Berthold bekannt?“
„Wie kommst Du denn da druff?“
„Na Mensch, weil ich Dir von ihn grüßen sollte, ich hätte das bald vergessen.“
„Nun nimm doch erst ’mal ’n Schluck und denn schieß mal lös“.
„- Na ich habe mit Berthold gesprochen und er fragte mich, ob ich Dir kenne und ich sollte Grüsse bestellen“.
„Karl, das ist mein Schwager gewesen, wo und wann haste denn den uffgegabelt?“
„Hermann, lass Dich nicht auslachen, ein 18 jähriger „Lehmer“ kann doch nicht Dein Schwager sein, hier an der Stelle habe ich ihn getroffen, wie Du die Buddel geholt hast.“
Na, Du Trantute, warum hast Du ’n denn nicht feste gehalten, wohin ist er denn verschwunden?“
„Hab ick ja, Hermann, hab ick ja, kiek doch mal hier hinter die Säule-!“
Erwartungsvoll und fuseldunstig trat der Gesuchte zu mir und starrte mich ungläubig an.

„Guten Tag, Onkel Hermann, ich bin Berthold, der jüngste von Jetschke und als Bäcker auf der Wanderschaft. Die Verwandten haben keine Ahnung, dass ich Dich aufsuchen wollte. Ich hörte oft von Dir erzählen, konnte aber nicht alles glauben und musste, da ich nun erwachsen bin, Dich selbst sprechen. Vielleicht entsinnst Du Dich an Deinen fünfjährigen Neffen, der Dir immer Schnaps von Sauerbrey’s in der Oberburgstrasse nach der Werkstatt holen musste.“

„Junge, Du Dreikäsehoch, Du bist auch schon so weit? Wie hast Du mich bloß hier ausfindig gemacht, ist denn so etwas möglich? Wie geht’s denn den Eltern und meinen Geschwistern, steht denn die alte Heimat noch?“
Alle diese Fragen kamen so pausenlos, so freudig erregt raus, dass ich gar nicht zur Antwort kam.
„Geh’ erst ’mal nach der Herberge, hier können wir ns nicht so aussprechen, in einer halben Stunde bin ich bei Dir, ich will bloß schnell was besorgen. Schieb aber nicht gleich wieder los, tu mir bloß das nicht an.“

Ich sah einen vom Leben durchrüttelten alten Mann vor mir, einen sogenannten ‚Speckjäger’ – meinen Onkel, zu dem mich das Blut der Verwandtschaft gezogen hatte. Sorge um mich und feuchte Augenwinkel verrieten, dass er noch nicht ganz verloren war. Das also war Onkel Hermann, den bittere Erfahrungen zermürbt und haltlos gemacht hatten. Die Herberge war nicht weit ab und gut besetzt. Es war noch keine halbe Stunde vergangen, da erschien der alte Onkel und legte mir ein Paket mit etwa 10 Paar gut belegten Stullen auf den Tisch. Er war für mich betteln gegangen.

„Junge, die sind alle einwandfrei und gut belegt, Du kannst sie mit dem größten Appetit essen. Er zog die Flasche aus der Brusttasche und tat einen tiefen Schluck. Als ich ihn fragend ansah, meinte er: „Ich würde Dir die ganze Buddel geben, bringe es aber nicht fertig. Es ist genug, dass es mit mir soweit gekommen musste.“
Zwei Stunden habe ich mir die bitteren Erlebnisse dieses alten Mannes angehört. Jedes geregelte Leben sei ihm zuwider, da es ‚nur Lug und Trug’ sei, hatte er mir versichert.

Andern Tages wanderte ich weiter. Die ‚Liebesgabe’ des Onkels habe ich unter bedürftigere Wanderburschen verteilt. Ausführliche Schilderungen über dieses wundersame Zusammentreffen ließ ich nach der Heimat gehen.
Kurze Zeit später hatte sich einer der bedauernswertesten Menschen trotz allem, mit Unterstützung seiner Geschwister, noch einmal aufgerappelt, um ein ordentliches Leben zu beginnen, jedoch vergebens. Das unstete Leben packte ihn bald wieder. Er ging in der Fremde unbeweint zugrunde.
In Kiel konnte ich nicht mehr bleiben; das Erleben hatte mich zu sehr gepackt und trieb zu neuer Arbeit.

Nach einem Abstecher über die dänische Grenze wanderte ich nach Hamburg zurück und fand in einer Brotbäckerei Arbeit. Dieses Glück dauerte nur acht Tage, die schwere Arbeit ging über meine Kräfte. Verschieden versuchte ich bei einem anderen Meister unterzukommen. Der Vermerk des Zeugnisses: ‚Berthold ist wegen allgemeiner Körperschwäche des gestellten Anforderungen nicht gewachsen’ machte mir, da dieses den Tatsachen entsprach, ein Fortkommen unmöglich.

So schlenderte ich in Gedanken versunken und mutlos durch Hamburg und Altona, als ich ganz unvermutet angerufen wurde: „Na, Du Lausejunge, was treibst Du Dich in dieser Strasse rum, nun aber auf kürzestem Wege raus hier“.
Ich war für’s erste erstaunt und sprachlos, fand mich aber sofort wieder und wurde ausfallend grob zu dem vor mir stehenden ‚Blauen’ – ‚Grüne’ gab es seinerzeit noch nicht -.
„Was erdreisten Sie sich, haben wir schon Brüderschaft getrunken, und kann ich nicht gehen, wohin ich will?!“
„Na, Jungeken, dann komm ’mal mit auf’s Revier.“
„Ich verbitte mir das ‚Du’ von Ihnen; ich bin ein erwachsener Mensch und suche Arbeit als Bäckergeselle!“
Lächelnd erwidert der Polizeibeamte: „Ausgerechnet hier in der Mariengasse? Na, dann zeigen Sie mal Ihre Papiere!“
Durch das ‚Sie’ schon etwas beruhigter, reichte ich ihm Gesellenbrief, Wanderbuch und Zeugnisse. Nach kurzer Prüfung der Papiere bekam ich diese mit dem Bemerken zurück: „Na, dann will ich nichts gesagt haben, solche Strasse sollten Sie lieber noch meiden.“
„Und was hat’s mit dem Lausejungen für eine Bewandtnis?“
„Will ich auch nicht gesagt haben, denken Sie, Vater hätte mit Ihnen gesprochen.“
Der Beamte machte eine Halbwendung und ging weiter; ich strebte dem anderen Ausgang der Gasse zu.

Jetzt erst bemerkte ich, durch den Vorgang aufmerksam geworden, in den Erdgeschossfenstern der Häuser paradiesische Frauengestalten in farbige Schleier gekleidet. Die Fenster waren zwar geschlossen, doch sorgte die Innenbeleuchtung und Körperverrenkungen der ‚Schönen -?!’ sehr eindeutig für die nötige Reklame.
Ich hatte mich in das Reich der ‚käuflichen Liebe’ verlaufen. Von der so offen angebotenen ‚Kaufgelegenheit’ schreckte ich angewidert ab. Zeiten vergehen.

Mutlos über die erschwerte Ausübungsmöglichkeit des erlernten Berufes wanderte ich weiter.
So kam ich an einem regnerischen Oktobertag des Jahres 1897 durchnässt bis auf die Haut in Wittenberge an. Was ich auf dem Leibe trug, war mein ein und alles.
Die Herberge war überfüllt, fröstelnd lief ich im Saale auf und ab, um warm u werden und fand endlich eine Sitzgelegenheit. Trotz Bierdunst und Zigarrengestank schlief ich vollkommen erschöpft bald ein.
Einige Stunden mochte ich geschlafen haben, als ich durch Tellerklappern und Bratkartoffelgeruch – eine Herbergsspezialität – aufgeweckt wurde.
Immer noch fror ich grässlich, so, dass die Zähne klapperten. Ein Teller heiße Erbssuppe sollte mir die nötige Wärme spenden. Der Herbergsvater zog die Suppe vor der Nase fort -; ich konnte nicht bezahlen. Papiere und Brustbeutel mit ca. 3 Mark Inhalt waren mir gestohlen worden. Ohne Papiere und Geld fand ich weder Unterkunft noch Verpflegung, sogar die Meisterspenden blieben aus.

Einige ‚Kunden’ umringten und tadelten mich wegen meines Schlafes im vollbesetzten Gastraum. Ein anscheinend mitleidsvoller ‚Heringsbändiger’ (Kaufmann) bezahlte für mich eine Suppe und lotste mich in eine Ecke, wo mir bereitwillig Platz eingeräumt wurde. Die heisse Suppe belebte mich wieder etwas.
Der ‚Kaufmann’ tröstete mich ‚so viel Pech’ und erbot sich, mir für ‚nur fünf Mark’ Ersatzpapiere und Zeugnisse für jeden Beruf zu vermitteln. Ein zweiter ‚besserer’ Kunde hatte schon Papiere bei der Hand und entnahm einer Aktentasche verschiedene Stempel.
„Was für Papiere willst Du denn haben?“ wurde ich gefragt. Sofort durchschaute ich die Sachlage. „Ich habe doch keinen Pfennig Geld mehr, mit was soll ich denn 5 Mark bezahlen? Ich muss in dem Wetter raus, um m mir 20  Pfennig für die Übernachtung zu betteln, hoffentlich fasst mich die Polente (Polizei) nicht ab“, erwiderte ich dem ‚Hilfsbereiten Kunden’ und ging los.

In 10 Minuten hatte ich mich zur Polizeiwache durchgefragt, zeigte den Vorgang an und schilderte die ‚Hilfsbereitschaft’ der beiden ‚Kaufleute’.

Mein Vater wurde polizeilich benachrichtigt und um Abholung ersucht. Mir wurde geraten, zur Herberge zurückzukehren und mich zu den ‚Fleppenfälschern’ (Betrüger) zu setzen, die vermutlich auch mich bestohlen hatten. Zwei Kriminalbeamte folgten mir in einigem Abstande.
Als ich die Herberge betrat, waren die ‚Vögel’ ausgeflogen. Der Herbergsvater bekam Anweisung, mich übernachten zu lassen, für Auslösung wäre gesorgt.
Schon nach zwei Tagen wurde ich vom Vater abgeholt und ausgelöst. In Merseburg, wohin ich mit dem Vater zurückfuhr, traf ich Onkel Hermann aus Kiel wieder und konnte mich an seinem guten Aussehen und meinem Erfolg erfreuen, wenn auch nicht allzu lange.
Nur ein Jahr durfte ich mich der so sehr ersehnten Freiheit erfreuen. Ein halbes Jahr Beschäftigung in einer Konditorei versprach auch keine besseren Aussichten für spätere Zeiten und so musste ich denn, dieses Mal nach dem Willen des Vaters und auf Vorschlag des Arztes ‚umsatteln’.

Ich sollte Zuschneider werden und musste dazu eine zweijährige praktische Lehre durchmachen. Lust hatte ich nicht die geringste, wer könnte das nicht nachfühlen, mit 18 Jahren vom Gesellen wieder zum Lehrling zurück?
Nun, der Lehrmeister war en einsichtiger Mensch und ich war willig und bestrebt, den gut gemeinten Vorschlag meines Vaters zur Ausführung zu ringen.
Die zweijährige Lehrzeit habe ich gut überstanden und im er von 20 Jahren die zweite Gesellenprüfung bei ‚Speckkuchen, Bier und Wein’ mit den Meistersleuten gut gefeiert. Dabei wurde ich mit einer Rüpelei – der einzigen, deren ich mich in den zwei Jahren schuldig gemacht hatte – gehänselt, ich aber ergänzte diese Rüpelei mit dem den Meistersleuten noch unbekannten, tragischen Schluss, der den Ausgang der Feier beherrscht gestaltete.
Die Rüpelei mit ihrem zum Nachdenken mahnenden Ausgang möchte ich hiermit festhalten:
Mein fünfzehnjähriger Lehrkollege hatte allabendlich zwei bis ein Paar Schuhe für die Meistersfamilie im Keller zu säubern, dabei leistete ich ihm oft Gesellschaft. Im gleichen Keller hatten auch die Gurken- und Mustöpfe (Marmeladengläser) Aufstellung gefunden.
Wie Lehrlinge nun einmal sind -, wir entnahmen ab und zu den Töpfen einige Kostproben mit dem Gaunertrick, dass der Eine losträllerte oder ein Liedchen sang, während der Andere die gewaltsam entführten Kostproben ‚auf ihre Haltbarkeit prüfte’ und munter mit größter Sicherheit verzehrte.

Die Frau Meisterin war wohl aufmerksam geworden und wollte an eine ‚krankhafte Auszehrung’ der Vorratstöpfe nicht glauben.
Eines Abends – ich trällerte gerade den neuen Schlager ‚Ja, auf dem Baume, da hängt ’ne Pflaume, die möcht’ so gern ich haben’. Franz, der Lehrkollege, hatte wieder einmal seine nicht immer einwandfreien Finger tief in den Mustopf versenkt – klatschte es hinter mir recht verdächtig, Franz sauste an mir vorbei, der Mustopf ging in Scherben und die Meisterin, hinter dem Vorratsschrank auftauchend, wetterte nach allen Regeln der Kunst über die Verderbtheit der Lehrlinge, wobei sie bedauerte, ‚mir alten Kerl’ nicht auch eine runterhauen zu können.

Der Lausbubenstreich hatte die Meisterin so gekränkt, dass sie sich anderen Tages noch ganz schlecht fühlte. Sie klagte ihrem Töchterchen Isolde im Beisein von Franz ganz weinerlich: „Ich fühle mich von gestern noch ganz krank, vorhin hat in der Nähe eine Eule gerufen, ich glaube bestimmt, das galt mir, ich werde doch noch nicht von Euch gehen müssen?“ Da waren auch Isoldchen die Tränen gekommen.

Franz kam zerknirscht nach der Bodenkammer geschlichen und erzählte mir diesen dramatischen Vorgang.

Solchem Aberglauben musste abgeholfen werden. Die ‚Eule’ sollte noch oft ganz in der Nähe rufen und die Frau Meisterin – sonst eine gute Seele – trotzdem recht lange noch leben.
Also setzte ich mich in das Dachfenster unserer Schlafkammer, von der wir einen herrlichen Ausblick nach dem alten Stadtgemäuer und nach der Saale hatten und ahmte wiederholt und meisterhaft den Eulenruf nach.
Franz dachte wohl noch an den zerbrochenen Topf und die geerbte Knallschote (Ohrfeige) von gestern, denn er trabte nach unten, wo ihn die Meisterin ganz aufgeregt auf den ‚Eulenruf’ aufmerksam machte. „Hörst Du den Totenvogel? Ich fühle mich so elend, wenn’s nur noch nicht mir gilt.“ Franz versuchte, der Meisterin diese Befürchtung - vollkommen zutreffend - auszureden.
„Wenn Sie so bleiben, wie Sic sich jetzt fühlen, dann können Sie noch recht alt werden“.
Dann kam er aber doch zu mir an’s Dachfenster, und ich stellte den Eulenruf ein. Die Meisterin wird noch lange leben.
Etwas anders sollte es aber doch kommen.

 Beim Morgenkaffee des nächsten Tages erzählte die Meisterin ganz aufgeregt: „Seht Ihr, dass ich gestern Abend recht hatte, nur galt der Ruf nicht mir. Im Nebenhause ist Frau Sommer im Kindbettfieber gestorben“. Wir antworteten mit keiner Silbe. Franz versicherte mir, ich sei bei dieser Nachricht ganz blass geworden. Das schien mir recht verständlich. Mir war der Gedanke einer möglichen Mitschuld am Tode der Verstorbenen gekommen. Wenn schon gesunde Menschen durch Aberglauben krank werden, wie viel verheerender kann solcher Unglaube auf Kranke wirken?

Ich habe mir später noch oft Vorwürfe über diese Rüpelei gemacht und berichte davon nur, um andere von ähnlichen Torheiten abzuhalten.

Zum zweiten Male Geselle geworden, gedachte ich, vor dem Besuch der Zuschneiderschule meine praktischen Kenntnisse zu erweitern. Als simpler Schneidergeselle habe ich dann auch in Halle, Leipzig, Berlin und Posen gewerkt.

Das ging nicht so schnell wie es geschrieben ist. ‚Berliner’ und Wanderstab wurden wieder meine Begleiter, und wo gewandert wird, da wird auch erlebt. Meine Erlebnisse waren schon immer die Schwächen meiner Familie und verdienen es daher hier festgehalten zu werden.

Auf der Herberge in Berlin suchte ich mir einen Wandergefährten, ohne einen solchen wäre die Wanderschaft auch zu eintönig geworden.

So glatt wie bei der ersten ‚Weltreise’ konnte es das zweite Mal nicht abgehen. Es ist etwas ganz anderes, ob ein Bäcker und ein Fleischer zusammen wandern oder ein Schneider nd ein Schlosser. Wir mussten also für genügend Kleingeld sorgen, wenn wir nicht zum Klinkenputzen (betteln) gezwungen werden sollten.
Bei den Meistergaben von ein, zwei und drei Pfennigen war nicht viel herauszuholen und mehr als zehn Meister pro Tag konnten wir nicht ansprechen. Es gab auch Meister, die die Pfennige für ansprechende Gesellen nicht zur Verfügung hatten und Tage, wo wir nur einen oder zwei Meister antrafen. Da bedurfte es dann schon aller Wanderburschenschliche und –ränke, um nicht als Bettler von Gendarmen gefasst und ‚eingelocht’ zu werden. Das Betteln wurde in der Form umgangen, dass wir beim Fleischer für 3 Pfennige Wurstzipfel verlangten, für fünf Pfennige gab es seinerzeit schon ein Stück ‚Soldatenwurst’. Vielfach bekamen wir dann einige Wurstzipfel und das Geld zurück.

Mein Reisegefährte pfiff auf so viel ‚Vornehmheit’ und ‚focht’ (betteln) feste drauf los. Einmal sollte uns das fast die Freiheit kosten.

Ein Gendarm hoch zu Roß hatte uns beobachtet. Wir gingen um eine Straßenseite und bemerkten wie der Gendarm nach einer Bäckerei winkte, in der der Schlosser kurz zuvor Brötchen gebettelt hatte.

Nicht weit von uns entfernt am Ausgang des Städtchens fuhr ein Planwagen. Wir ahnten nichts gutes, rannten dem Mehlwagen nach, schwangen uns hinten hoch und verschwanden unter der schützenden Plane. Den Kutscher hatte ich schnell verständigt und gebeten, uns nicht zu verraten, da wir gebettelt hätten und ein berittener Gendarm vermutlich hinter uns her käme. Der Fahrer bedeutete uns, zwischen den Säcken zu verschwinden und diese standen so günstig, dass wir uns gut verbergen konnten.

Nach kaum fünf Minuten hörten wir Huftritte näher kommen, das Herz schlug uns hörbar bis zum Halse hinauf.
Neben dem Wagen reitend hörten wir den Reiter fragen: „Haben Sie zufällig zwei ‚Penner’ beobachtet?“
Ja, gleich links hinten sind zwei auf dem Feldwege nach dem Walde zu eingebogen, die konnten gut lofen, haben wohl was ausgefressen?“
„Die Geschäfte haben sie ‚abgefochten’. Die Strolche scheinen Lunte gerochen zu haben, ich werde sie schon fassen.“ Der Gendarm riss sein Pferd herum und ritt in der angegebenen Richtung davon. Das war unsere Rettung – dachten wir!
Der Kutscher ließ uns neben sich setzen. Er war früher selbst ‚gewalzt’ (gewandert) und erzählte davon, nur war er nicht so gut davon gekommen. Vierzehn Tage Gefängnis wegen Bettelei waren ihm in seinem Fortkommen sehr hinderlich gewesen, deshalb hat er uns geschützt.
Er holte einen ganzen Ring Schlackwurst hervor, schnitt ihn in drei Teile, von denen er den kleineren behielt, schnitt auch drei ‚Runxen’ (dicke Scheiben) Brot ab und wünschte uns guten Appetit. Einen Schluck aus der Buddel durften wir auch nehmen. Das war ein Genuss nach dem ausgestandenen Schrecken. „Na, Jungens, wie hat Euch die Pferdewurst geschmeckt?“, fragte uns lachend der Mehlkutscher. Wir lachten wieder – die Wurst hatte wirklich gut geschmeckt, ich hatte noch nie Pferdewurst gegessen. Das ‚Kompott’ sollte bald folgen.

Die Landstrasse bog in einen Wald ein, der Fuhrmann hatte dabei zufällig hinter sich gesehen und dabei – oh, Schreck – unseren Verfolger in einiger Entfernung erkannt. Er verständigte uns, ließ die Pferde in Trab laufen bis wir durch die Biegung gedeckt waren, und wir sprangen ab, uns seitwärts in die Büsche schlagend. Eine Waldsenke verbarg uns vollständig, gesehen konnte uns der Gendarm auch nicht haben.

Nach kaum fünf Minuten hörten wir wiederum Huftritte, der Gendarm trabte vorbei, wir waren also nicht beobachtet worden.
Trotzdem leben wir liegen und gedachten einige Stunden zu lagern, um dann einzeln biz zum nächsten Ort weiterzugehen.
Etwa eine halbe Stunde mochte ergangen sein, als wir erneut Pferdegetrappel vernahmen. Als die Hufschläge verebbten, äugten wir hinterdrein – es war wirklich unser Peiniger, der ‚ohne Beute’ den Rückweg angetreten hatte.
Jetzt hieß aber, aus der Gegend zu verschwinden. Innerhalb des schützenden Waldes marschierten wir im Geschwindeschritt in Straßenrichtung weiter. Nach ½ Stunde erreichten wir das nächste Dorf. Vor dem Dorfkrug stand unser rettender Planwagen. Wir bedauerten, dass der hilfsbereite Fuhrmann vielleicht Schwierigkeiten wegen uns haben könnte und wollten vorbeischleichen, der aber hatte ns bereits gesehen und hereingewinkt.
Es war Mittagszeit. Wir fragten nach einem Teller Suppe, die wir auch bekamen.
Der Kutscher bestellte uns Bier und beim Essen schilderte er uns die erneute Begegnung mit dem Wachtmeister:
„Anhalten! Sie haben die Fechtbrüder auf Ihrem Wagen. Sie sind beobachtet worden, wie sie sich unter die Wagenplane geflüchtet haben, das müssen Sie doch gemerkt haben?“
„Na, dann sind die och noch drinne, Herr Wachtmeister, woll’n wir gleich haben.“ „Ich bin ringeklettert“, erzählte unser Freund weiter und habe dem Wachtmester zugerufen: „Nischt zu machen, Herr Wachtmester, kommense rin und überzeugense sich“. Das der mit seiner Uniform nicht in den Mehlwagen kam, wusste ich, aber den Plan musste ich von einer Seite doch los machen.

„Da sind die Strolche unterwegs wieder abgesprungen!“
„Wird wohl so sind, Herr Wachtmeister, Kinstlerpech, Herr Wachtmester; ich hatte jedenfalls keine Ahnung!“
Der hat mich dann so verdächtig eklich angekiekt und ist wieder abgehauen.
Wir gaben von uns noch kurz Bericht, der Krugwirt, auch ein ehemaliger Schlosser und Wanderbursche, der den Krug vom Vater übernommen hatte, gab noch einige Erlebnisse seinerseits zum besten und so wurde aus der Angstpsychose eine Lebenserinnerung.

Der Kutscher nahm uns noch ein Stück des Weges mit und trieb seine Pferde an, um wieder aufzuholen. Den Rest wollte er auf den Gendarm abwälzen. Mit Dank schieden wir von einem ‚Vorbestraften’, der durch eigenes Erleben ‚Mensch’ geworden war.
Über 30 km sind wir an diesem Tage gelaufen, nur um weit aus dem Gefahrenbereich herauszukommen. Spät abends, es war schon dunkel, erreichten wir en größeres Dorf. Kein Mensch war zu sehen, vereinzelt bellten die Hunde. Etwas helles an einem Zaun ließ uns folgerichtig vermuten, dort musste der Ortsvorsteher wohnen. Die Holzläden waren geschlossen, alles still ringsum. Nicht einmal ein Hofhund hieß uns mit deinem Gekläffe willkommen. Leise berieten wir uns, was war da zu tun? Wir klopften leise an einem der Fensterläden, nichts regte sich. Den Ortsgewaltigen wecken? Das wäre ein Wagnis und sicher nicht ratsam. Also beschlossen wir, uns nach dem ersten besten Stall oder gar nach der Scheune zu schleichen, um unseren übermüdeten Körper die nötige Ruhe zu verschaffen.

 Glück muss der Mensch haben! Wir kamen an’s Scheunentor, die kleine Tür war nur verriegelt, leise schlichen wir uns ein und zogen die Tür hinter uns zu. Vorsichtig tasteten wir uns ein zogen die Tür hinter uns zu. Vorsichtig tasteten wir uns im Stockdunkel vorwärts. Kein Heu oder Stroh war zu spüren, auch keine Leiter, die von der Tenne in’s Heu geführt hätte. Nur ein eigenartiger ‚stockiger’ Geruch durchzog den Raum. Ich hatte einen großen Wagen ausgemacht. Es blieb uns keine Wahl; wir kletterten hinauf, legten den ‚Berliner’ unter den Kopf, kuschelten uns eng aneinander und schliefen bald ein, ab und zu durch einen Frostschauer erwachend.
 Ein Rumoren auf dem Hofe machte uns munter. Es war so hell, dass wir die Gegenstände um uns herum erkennen konnten. Wir lagen in einem fensterlosen Schuppen auf einem – Leichenwagen, daneben stand eine Tragbahre, in einer Ecke ein großes, schwarzes Holzkreuz und verschiedenes Handwerkszeug, wie es der Totengräber eben benötigt.
Auf einem Wagen, der die menschliche Hülle zum ewigen Frieden führt, hatten wir fröstelnd übernachtet -!
 Der Bauer müsste wohl etwas wahrgenommen haben, denn er kam in den Schuppen und war auch gar nicht erstaunt, als wir ihm von unseren vergeblichen Bemühen um ein Nachtlager berichteten. „Da werdet Ihr ja ordentlich durchgefroren sein“, sagte er nur, „wascht Euch mal am Brunnen und dann kommt in die Stube, der Kaffee ist schon fertig.“ Das ließen wir uns nicht zwei Mal sagen.

Durch einige kräftige Stullen und heißen Kaffee gestärkt, setzten wir unsere Wanderung fort. Gegen Mittag durchkreuzten wir einen Ort. Verabredungsgemäß suchte mein Wandergefährte die linke, ich die rechte Straßenseite nach einer Verdienstmöglichkeit gegen ein warmes Essen ab.

 Unter anderem betrat ich ein Haus, in dem sich nichts rührte. Rechts im Flur war eine Tür. Ich klopfte bescheiden an, keine Aufforderung zum Eintreten. Vorsichtig drückte ich den Türgriff nieder, die Tür gab nach, ein starker Glockenschlag, ich stand in einer ländlichen Fleischerei ohne Schaufenster. Nun konnte ich nicht gut zurück, wenn ich nicht in einen falschen Verdacht kommen wollte. Gleich darauf kam eine große kräftige Frau angelaufen, erkannte in mir den Handwerksburschen und schimpfte, ohne zu fragen, was ich wollte, gleich drauf los: „Solch eine Frechheit, jetzt kommen die Fechtbrüder ohne zu warten gleich in den Laden, die Polizei müsste ich holen, was Wollen Sie denn hier?“

„Frau Meisterin, schimpfen Sie doch nicht gleich drauf los, ich bin ein anständiger Wanderbursche und möchte für fünf Pfennige einen Wurstzipfel kaufen, da ich schon seit drei Tagen kein warmes Mittagessen erhalten konnte!“
Das war zwar ein schlechtes Deutsch, doch sehr leicht verständlich und nicht gebettelt.
„Dann laufen Sie nicht gleich stracks in den Laden, sondern warten draußen bis jemand kommt! Wollen Sie einen Teller grüne Bohnen essen?“
„Ich nehme das dankbar an, Frau Meistern, aber betteln wollte ich wirklich nicht“.
Die Meisterin nahm mich mit in die Küche und schöpfte mir vom Feuer weg einen großen Napf grüne Bohnen mit reichlich Fleisch gekocht ein. Dann ging sie zur Haus Tür raus nach der Straße und ließ mich allein in der Küche.

 Da stimmte doch etwas nicht? – sie hatte doch mit der Polizei gedroht! Mochte kommen, was da wolle. Ich hatte für mein Geld Ware gefordert, und sie hatte mir freiwillig ein Mittagessen angeboten. Jedenfalls zog ich es vor, so schnell wie möglich den Napf leer zu löffeln, dabei verbrannte ich mir in Hast und Sorge den Mund nicht unerheblich.

Die Haustür wurde wieder geöffnet, die Fleischerfrau trat ein, Gott sei Dank ohne Begleitung.
„Frau Meisterin, besten Dank für das schöne Essen, nun geben Sie mir bitte noch für zehn Pfennig Wurst; ich bezahle alles zusammen.“
Das war gerissen gesagt, nun konnte der Blaue kommen.
„Hören Sie mal, junger Mann, ich habe doch keine Kneipe, nun essen Sie schon noch etwas, ich habe reichlich gekocht und mit der Polizei, das habe ich auch nicht so gemeint.“
 Ich habe wirklich noch einen Napf leer gemacht, ein Stück Wurst erhalten und musste sogar mein Geld wieder einstecken -. Unter einer rauen Schale steckt oft ein edler Kern.

Die Wanderschaft und damit ein unvergesslicher, nicht immer sonniger Abschnitt meines Lebens ging ihrem Ende entgegen. Etwa 50 km trennte uns noch von unserem Ziel. Der Herbst machte sich unangenehm bemerkbar und drängte zur Sorge für eine Arbeitsunterkunft im Winter.

Wir erreichen eine mit alten Obstbäumen bestandene Chaussee, fast ausschließlich Apfelbäume, die durchschnittlich große reife Früchte trugen. Für Chausseebäume.
Eine Seltenheit. In der Ferne bemerkten wir einige Leitern an den Bäumen, der Pächter holte die vielversprechende Ernte ein.
„Ihr habt Euch wohl schon die Taschen vollgestopft?“ wurden wir angerufen.
„Die sind zwar noch leer, aber mit Eurer Zustimmung holen wir das gerne nach.“
„Wollt Ihr denn ein paar Tage für gutes Essen und Übernachtung helfen?“

Ohne Bedenken sagten wir zu. „Frühstücken“, rief er den Pflückern zu; wir durften uns am Frühstück beteiligen und bekamen jeder vier Eier und reichlich Butterbrot, dann wurde eine Literflasche Schnaps herumgereicht.
„Obst könnt Ihr nach Feierabend essen, soviel Ihr nur wollt, aber nur von den aussortierten und nicht während der Arbeit, sonst schafft Ihr nichts!“
Acht Tage haben wir Obst gepflückt, sehr gut gegessen und gutgeschlafen. Am neunten Tage wurde eine Fuhre sortiertes und in Körben verpacktes Obst auf den Markt in Posen gebracht. Ich durfte mitfahren, während mein Wandergefährte, ein großer kräftiger Bursche, auf dem Bauernhof verblieb.

Die Abfahrt nach Posen erfolgte spät abends, die Ware musste morgens in Posen sein. Einige Stunden waren wir gefahren. Der Pächter hatte die Zügel lose in der Hand und war eingeschlafen, die Pferde schienen den Weg zu kennen, ich selbst durchforschte die Dunkelheit, soweit das im Scheine der Wagenlaterne möglich war. Ganz plötzlich und unverhofft schlug mit der Peitsche um sich. Beim schnellen Umdrehen sah ich noch zwei Männer hinten vom Wagen abspringen und in der Dunkelheit verschwinden.

Auf meine Frage, wie er die beiden bemerkt habe, da ich doch in wachem Zustande nichts gewahr geworden wäre, erzählte er von einem Fuhrmann, der vor Wochen in der Nähe überfallen und beraubt worden sei. Er habe im Halbschlafe das Empfinden einer Gefahr gehabt und ohne jede Überlegung um sich geschlagen. Die beiden Burschen hatte er jedoch auch noch bemerkt.
Mit der Ruhe war es für diese Nacht bei mir vorbei. Der Pächter ließ die Pferde frei laufen und nickte bald wieder ein, als wenn nicht das geringste geschehen wäre.

Geängstigt, in eine Pferdedecke gehüllt und doch fröstelnd hatte ich mich in die Wagenecke gelehnt, ab und zu den Blick nach hinten gerichtet. Aufmerksam durchforschte ich das nächtliche Dunkel. Da bemerkte ich in einiger Entfernung einen rötlichen Schein, die Umrisse eines Hauses ließen sich erkennen. Plötzlich schlugen hohe Flammengarben empor, die Pferde wurden unruhig, ich weckte den Pächter. Ergriffen beobachteten wir die vernichtende Macht des helllodernden Feuers. Lange währte der Brand, um im Morgengrauen zu verlöschen.

 Eine tragische Nacht lag hinter uns, wir näherten uns Posen. Auf dem Marktplatz blieb ich bis zur Erledigung des Verkaufes.
Jetzt wollte ich die unbekannte Tante aufsuchen, der ich mich schon vor Wochen angemeldet hatte.
Ich begab mich erst einmal zur Apotheke, wo ich mir Salbe kaufte, dabei bevorzugte ich die graue Farbe. Der Barbier brachte mir für 25 Pfennige Kopf- und Barthaar in Ordnung. Ein ausgiebiges einstündiges Wannenbad sorgte für die Reinigung des übrigen Menschen. Die stark derangierte schmutzige Wäsche stopfte ich – für den Wärter unsichtbar – hinter die Badewanne, dann zog ich ’einen anderen Menschen’ an, der bisher im ’Berliner’ geschlummert hatte. Für mein letztes Geld von dreißig Pfennigen erstand ich für die unbekannte Tante auf dem Marktplatz noch einen schönen Blumenstrauß.

So auf ‚Mensch’ umgearbeitet, wurde ich von meines Vaters Schwester herzlich willkommen geheißen. Im Laufe der Unterhaltung legte mir die Tante einen Brief meines Vaters aus dem Jahre 1866 und meine Postkarte vor. Ich hätte vor Gericht einen Eid geleistet, dass ich diesen Brief geschrieben habe, so unverkennbar ähnlich waren die Schriftzüge. Es war die Handschrift meines Vaters aus seiner Jugendzeit.
 Vier Wochen nur habe ich mich in Posen aufgehalten. Eine Existenzmöglichkeit war bei täglich vierzehnstündiger Arbeitszeit und einem Wochenlohn von nur neun Mark, von dem alles, was zum Leben gehört, bestritten werden musste, selbst für die damalige Zeit nicht gegeben.
 Jedenfalls hatte ich einen Einblick in die Arbeitsmethoden und Verhältnisse verschiedener Städte getan. An Erfahrungen und Wissen für Dasein und Beruf reicher, kehrte ich nach Berlin zurück. Hier schritt das Leben den mir vom Schicksal vorgeschriebenen Weg unerbittlich weiter.......

Prustend und stöhnend fährt der Zug in die Halle des Berlin-Schlesischen Bahnhofs ein.
Bremsen kreischen missliebig das Empfangskonzert für alle, die der unersättliche Rachen des Großstadtmolochs schlucken sollte.
Der Zug steht still. Wirres Durcheinander der Reisenden. Hier und da freundliches Zuwinken, herzliche Begrüßungen, Freude, jubelnde Umarmungen.

Lohnträger nehmen eilfertig Gepäckstücke von der Hutschachtel bis zum Abteilkoffer in Empfang. Hoteldiener schleppen Lasten vornehm wirkender Reiseutensilien nach den Hotels. Mit zufriedenen und glücklichen Gesichtern eilen Geschäftsreisende, Väter, Mütter, Freunde und Bekannte ihren traulichen Heimen zu, um sich gegenseitig das Herz nach langer Trennung auszuschütten. –

Einsam und verlassen steht ein armer Handwerksbursche mit schmalem ’Berliner’ und zwei Mark fünfundsiebzig Pfennig in der Tasche, wie vergessen und nicht abgeholt – von niemand beachtet.
Erst aller Trubel vorbei ist und die Menschen sich verlaufen haben, scheint wieder das Leben in ihn zu kommen. Unschlüssig sieht er sich um und schreitet dem Ausgange des Bahnhofs zu. Niemand hat ihn erwartet, niemand sich seiner angenommen. Fremd steht er allem und allen gegenüber und doch kennen wir ihn. Es ist der Wanderbursche Ernst Berthold aus ‚Großvaters Erinnerungen’, dessen Wanderungen wir bisher so teilnehmend miterleben durften.
Doch lassen wir ihn nun wieder selbst erzählen.

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In Berlin angekommen, stand ich zuerst ratlos und verlassen da.
Die Adresse eines Sohnes meiner Posener Tante und zwei Mark und fünfundsiebzig Pfennige waren mein ein und mein alles.
Der erste Weg führte mich zur Markgrafenstraße in die Schneiderherberge. Unter allen Umständen musste ich Arbeit bekommen, denn ich wollte leben.
Arbeitslosenunterstützung gab es seinerzeit nicht. Wer nicht arbeitete, hatte auch nichts zu essen. Ging man vor Hunger betteln und ließ sich gar erwischen, dann stand das Gefängnistor offen, das man nur als ‚Vorbestrafter’, also ‚Mensch zweiter Klasse’ wieder verlassen konnte.
Die Herberge war voll Arbeitsuchender, Arbeit war nicht zu haben, oder doch, aber nur bei einem ‚Krauter’ (kleiner Meisterbetrieb) im Norden Berlins, wo niemand hinaus wollte. Für mich gab es kein langes Überlegen; ich schrieb mir die Adresse auf.
Zuversichtlich und voller Hoffnungen im Herzen suchte ich meinen Vetter, der in der Marsiliusstraße eine Schlafstelle inne hatte, auf. Nachdem ich die Grüße seiner Angehörigen ausgerichtet und mich einigermaßen satt gegessen hatte, durfte ich bei ihm auf dem Sofa übernachten. Allerdings erhob die ‚Schlummermutter’ (Vermieterin) Einspruch gegen den Zuwachs, der jedoch gegen fünfzig Pfennig Sondergebühr zurückgezogen wurde.
Ausgeruht verließ ich um 6 Uhr früh und fünfzig Pfennige ärmer den Vetter und erreichte nach einstündigem Fußmarsch den Berliner Norden.

Mit Arbeitern voll besetzte Stadt- und Straßenbahnen, Pferdeomnibusse und ganze Reihen Radfahrer fuhren nach ihren Arbeitsstellen und überholten mich – Glückliche Menschen!-

Die Stelle bei Meister Krebs war noch frei. Ich traf gerade zur Kaffeezeit in der Reinickendorfer Straße ein. Nach kurzer Stärkung wurde Schere und Nadel hurtig in Bewegung gesetzt.
Für neun Mark Wochenlohn bei voller Beköstigung hatte ich Arbeit in Berlin gefunden.
Am Abend suchte ich mir eine Schlafstelle für monatlich zehn Mark. Zwei Mark hatte ich anzuzahlen. Mit einer Restbarschaft von fünfundzwanzig Pfennigen in der Tasche, einem festen Dach über dem Kopfe und Arbeit bis zur ‚sauren Gurkenzeit’ fühlte ich mich als der glücklichste Mensch. Der wäre ich wohl auch geblieben, „wenn die Liebe nicht wär!“
Ab und zu besuchte ich meinen Vetter, vornehm, wie ich nun einmal war, leistete ich mir zwei Rappen (Pferdestraßenbahn), früher sagte man dazu gemeinhin ‚er kommt auf Schusters Rappen’.
Sonnabends, oder wenn es stark regnete, fuhr ich eine Teilstrecke auf dem Pferde-Sechseromnibus für fünf Pfennige vom Nettelbeck- bis zum Pappelplatz. Das geschah etwa nicht aus Angst vor den Schuhen, da hätte das Wasser ruhig oben hinauflaufen können. Ich trug eine Art Gesundheitsschuhe, das Wasser darin hatte unten meist freien Lauf.

Mein Vetter, vom Beruf Kammmacher, war verlobt und bestellte mich zu einem Sonntagsbesuch; ich sollte seine Verlobte kennen lernen. Ein anschließender Ausflug mit der eingleisigen Spreetunnelbahn – damals noch eine Sehenswürdigkeit – nach dem Treptower Park, sollte mit Tanz und Brillantfeuerwerk den Abschluss bilden. Das versprach ja ein herrlicher Tag zu werden -, wenn ich nur so könnte, wie ich wollte.

Mein einsitziger Anzug hatte bestimmt keinen Anspruch auf ‚Gesellschaftsfähigkeit’ mehr, war doch die Verlobte meines Vetters ein ‚besseres Dienstmädchen’ bei ‚Herrschaften’, die am Gendarmenmarkt die ganze erste Etage eines verschlossenen Hauses einschließlich der Vorderzimmer bewohnten.

Unter einer Mark Unkosten – fast 11 % meines baren Wochenverdienstes – würde es wohl kaum abgehen. Mein neuer Anzug, den ich beim Meister abarbeitete, legte mir auch größte Einschränkung auf. Ein Gedanke durchzuckte mein gequältes Hirn – dieser Anzug musste bis Sonntag fertig werden. Heute war Dienstag. Bei täglich vier Überstunden konnte ich – einschließlich Sonntag Vormittag – vierundzwanzig Arbeitsstunden herausschinden, es würde gehen.

 „Machen Sie für heute Schluss, Berthold, nach dem Abendbrot wollen Sie doch an Ihrem Anzug weiterarbeiten, sonst wird es mit der Brautschau am Sonntag nichts“, sagte der Meister.
„Es ist doch die Braut meines Vetters, das ist nichts für mich.“
„Vielleicht fällt für Sie in Treptow eine kleine Schlächtermamsell ab.“
Ein Klopfen an der Werkstatttür macht der Unterhaltung ein Ende. Ein guter Kunde, Fleischermeister Pech, betritt die Werkstatt.
 „Guten Abend, Meister Krebs.“

„Guten Abend, Meister Pech. Haben Sie en Pfund Würstchen mitgebracht? Wir wollen gerade Abendbrot essen.“
„Nein, aber sehr dringend Arbeit! Ich habe Trauer bekommen und muss bis Sonnabend unbedingt einen schwarzen Rockanzug haben!“
„Das wird nicht gut möglich sein, mein Geselle macht schon jeden Abend Überstunden und ich allen kann es nicht schaffen.“
„Nehmen Sie sich eine Aushilfe, den Anzug brauche ich unbedingt, sonst muss ich die Konkurrenz beehren!“
„Na, Berthold, da wird es mit Ihrer Brautschau am Sonntag nichts, wie denken Sie darüber?“
„Das Geschäft geht vor, Meister, von mir aus sollen Sie Meister Pech nicht als Kunden verlieren.“
„Das ist doch ein Wort, Berthold“, sagte Meister Pech, „gehen Sie zu meiner Frau, sie soll Ihnen ein Pfund Würstchen auf meine Rechnung geben, damit Sie sich Mut anfuttern.“

 Der Meister nahm Maß; ich ging meinen Sonntagstraum gegen ein Pfund Würstchen eintauschen, das wiederum in vier Teile ging; mit der Meisterfamilie stand ich mich sehr gut. – Es sollte eben so sein.
Der Anzug wurde geschafft, ich bekam drei Mark Extralohn; die Brautschau musste ins Wasser fallen. Sie fiel auch gründlich hinein. Am Sonntag regnete es von früh bis Abend ‚Strippen’.
Für mich war das gut so, ich blieb daheim und arbeitete für mich selbst.
Abends begab ich mich nach meiner Schlafstelle, um einmal tüchtig auszuruhen.

 In der Maxstraße im Norden Berlins steht ein dreistöckiges Mietshaus fast durchweg von einfachen Arbeiterfamilien bewohnt, die durch vermieten einzelner Zimmer ihren Lebensunterhalt zu verbessern suchten. Im Parterre befand sich ein Milchladen und eine ‚Kaschemme’ (ein von dunklen Elementen besuchtes Lokal).

Frau Rietz, bei der ich wohnte, war verwitwet und hatte zwei sechs- und achtjährige Jungens. Sie verdiente sich ihren Lebensunterhalt durch Hausreinigung, Zimmervermietung und Wäscherei.
Die Frau war Anfang der dreißiger Jahre, sehr fleißig und sparsam.
Für die Hausreinigung erhielt sie eine Zweizimmerwohung zur Verfügung gestellt, die sie recht gut auszunutzen verstand.

Ein größeres Zimmer, in das ich mit einem Frisör teilte, enthielt zwei altersschwache Bettstellen, deren Federbetten schon Generationen Wärme gespendet haben mochten, einen Schrank, einen Tisch, zwei Stühle von nicht mehr festzustellendem Alter und Farbe und enen kompletten eisernen Waschständer. Wir zahlten dafür, einschließlich Morgen- ‚Kaffee’ je zehn Mark monatliche Miete. Das kleinere Zimmer mit einem Tafelklavier, dessen jammervolle Töne auch ein weniger empfindliches Ohr beleidigen konnten, war für fünfundzwanzig Mark an einen ‚möblierten Herrn’ abgegeben.

Der fensterlose Korridor, von den Milchglasscheiben der Küchetür spärlich erhellt, war durch einen Vorhang getrennt, hinter dem ein eisernes Bett Aufstellung gefunden hatte. Dieses war einem Anstaltspflegling mit acht Mark berechnet. Die Küche endlich, diente der Wohnungsinhaberin und ihrer Schwester, die sich in ein Bett teilten, als Schlafraum. In einem Bettkasten, der am Tage unter das Bett geschoben wurde, schliefen die beiden Knaben. Die Tapeten der Zimmer waren durchweg mit Tapetenflundern (Wanzen) verziert. Dieses Muster war teilweise auch in der Bettwäsche zu finden. Für zehn Mark Miete konnte man nicht mehr verlangen.

 Das war meine erste Zuflucht in Berlin, unter solchen Verhältnissen lernte ich Berlin kennen und musste mit meinem Schicksal zufrieden sein.
Da ich die Angewohnheit hatte, in allen Lebenslagen ‚unter mich zu sehen’, gelang mir das auch sehr gut.............
Der vielversprechende Sonntag war herangekommen.

Mein Zimmergenosse – der Frisör – hatte mir das Haar leicht gewellt, die Bartkoteletten beschnitte und den noch recht unansehnlichen Schnurrbart herausgeputzt.
Der neue dunkelgraue Gehrock – Straßenanzug wurde ‚ins Treffen’ geführt. Eine Künstlerschleife für fünfunddreißig Pfennige – mehr farbenfreudig als wertvoll – musste den Menschen erst richtig herausheben. Die auf Hochglanz geputzten Schuhe und der blankpolierte Nickelkneifer gaben den letzten Schneid und stempelten mich, nach meinem Spiegelbild zu urteilen, zu einem erträglichen Menschen.

Schicker konnte ich nicht aussehen, wenn ich auf eigene Brautschau ging; so sollte ich ja nur die Braut des Vetters kennen lernen, der würde sich seiner Verwandtschaft nicht schämen brauchen.
Innerlich stolz, nach außen gleichgültig, als hätte ich nie anders ausgesehen, ging ich zu Tisch.

Die Meisterfamile schmunzelte mich vielsagend an. Der Meister sagte: „Na, Berthold, so schick haben Sie sich wohl selbst noch nicht gesehen?“ Da wird der Vetter nebst Braut staunen!“
„Das glaube ich auch, Meister, hat aber auch so ziemlich meine ganze Barschaft verschlungen!“
„Reichen Sie denn für heute, sonst gebe ich Ihnen noch etwas. Sie wollen doch nach Treptow, da kostet das Glas Bier zwanzig Pfennig?“
„Dann kann ich noch drei Glas Bier trinken, eine Zigarre rauchen und die Elektrische bezahlen!“
„Wie sieht es denn mit dem Abendbrot aus?“
„Wenn mir die Frau Meisterin ein paar Stullen (Brotscheiben) mitgibt, reiche ich aus.“
„Nein, Berthold, so können Sie nicht rechnen. Ich geben Ihnen die Dreimarkrate für den Anzug von gestern zurück und 50 Pfennige für Abendbrot, dann zahlen Sie einfach eine Woche länger ab.“
So anständig und familiär wurde ich bei Meister Krebs behandelt.

Nach dem Mittagessen zog ein fast feudaler Schneidergeselle mit dickem Portemonnaie – eine Mark fünfzig hatte ich mir in Groschen und ‚Sechsern’ (Fünfpfennigstücke) erbeten – zu seines Vetters Brautschau, nicht ahnend, dass ihm das Schicksal auch seine spätere Ehehälfte in die Arme – an diesem Tage leider nur zu Gesicht – führen sollte.
Stolz wie ein Spanier traf ich bei Vetter Eduard ein. Die Verlobte war noch nicht anwesend.

Eduard freute sich über mein gutes Aussehen; er hatte mich seiner Verlobten angeblich in weniger guten Farben und als Wanderbursche geschildert. Eine angenehme Enttäuschung der Braut konnte meinem Ansehen nicht schaden.
Wir hatten den Verlauf des Tages besprochen. Nach Beendigung des Feuerwerks wollte ich von Treptow gleich nach Hause fahren, während der Vetter mit seiner Braut noch im Treptower Park lustwandeln wollte. Das konnte ich verstehen; wie schön musste es sein – wenn !!!
Die Flurglocke riss mich aus den Gedanken.
Eduard öffnete, der große Moment – in zweifacher Bedeutung – trat ein – nicht allein.
Ich wurde der Braut und deren Schwester Berta Schulz, die zufällig – ‚zufällig’ ohne Gänsefüßchen – ihre Schwester besuchen wollte und daher gleich mitgebracht wurde, vorgestellt.

 Die Schwester war eine mittelgroße schlanke Brünette von gutem Wuchs und gutem Aussehen. Graublaue Augen, die ehrlich und ohne Falsch in die Welt schauten, und eine gute Körperhaltung gaben ihr einen gewissen Reiz. Das blassblau gemusterte Kleid mit einem bauschig abfallenden und mit Sammetbändchen garnierten Schulterkragen und dem dazu passenden einfachen aber todschicken Hütchen wusste sie in dezenter Weise zu tragen.

Mir erschien Sie wie der sonnigste Frühling. Trotzdem beschlich mich eine beängstigende Unruhe. Ich würde mich der zukünftigen Schwägerin meines Vetters widmen müssen, schon um diesem und mir keine Blöße zu geben. Dabei dachte ich an die Barschaft, die meinem Portemonnaie mit seinen Zehnpfennigstücken Wohlhabenheit vortäuschen sollte.

 Das Eintreffen der Schlummermutter mit einer großen Kanne Kaffee, der einen aromatischen Duft verbreitete und gutes ahnen ließ, entrückte ich mich allen weiteren Gedanken. Das nötige Geschirr und ein Teller mit Sechser- und Kuchenstücken folgte. Die ‚Kaffeetafel’ wurde eröffnet.
Des Vetters Schwägerin war nicht so ganz einverstanden.
 „Ich habe mir selbst Kuchen mitgebracht, es wäre wohl auch vernünftiger gewesen, bei dieser herrlichen Witterung außerhalb in einem Gartenlokal Kaffee zu trinken, als hier im Zimmer zu hocken“, sagte sie zum Vetter gewandt.
„Das wollen wir auch“, wurde ihr zur Antwort gegeben, „nur kann ich zu Hause eine ganze Familie bewirten, während ich außerhalb den gleichen Betrag für mich selbst benötige; so wie wir Kaffee getrunken haben, fahren wir nach Treptow und genießen die Luft im Freien, bei Konzert und Feuerwerk“.
„Um mich brauchst Du Dich nicht zu sorgen, lieber Schwager, ich bezahle meinen Teil allein und habe mir auch für den Abend Stullen mitgebracht.“

 Der Kaffee war bald eingenommen, innere Wärme stieg in mir empor, ob vom Kaffee, der herzlichen Unterhaltung oder Fräulein Schulz, die neben mir saß und mich nett bediente, weiß ich nicht mehr zu sagen. Die Tatsache selbst genügte ja auch.
Wir waren soweit. Vetter Eduard machte den ‚Bärenführer’ und empfahl mich, da ich in Berlin verhältnismäßig fremd war, der Obhut von Fräulein Schulz.
Bei dem herrlichen Wetter war großer Andrang vorauszusehen; als Treffpunkt bei einer etwaigen unfreiwilligen Trennung wurde die Abtei vereinbart. Wie eine unfreiwillige Trennung zustande kommen sollte, konnte ich mir nicht denken.
An der Spreetunnelbahn standen Menschen über Menschen, die nach Treptow wollten. Die alle fünf Minuten verkehrenden Wagen wurden förmlich gestürmt, dabei wurden die Stehplätze auf den Vorder- und Hinterperrons bevorzugt. Von dort aus konnte man den Spreetunnel in seiner imposanten Bauart am besten bewundern.

Das Gedränge wurde immer ängstlicher. Mit klopfendem Herzen bot ich meiner Begleiterin den Arm. „Aber bitte nur so lange, wie dieses Gedränge ist.“
„Das war auch meine Absicht, Fräulein, ich will nicht aufdringlich sein.“
„Dann ist es ja gut – aber wo ist denn meine Schwester und ihr Verlobter?“
Schon war geschehen, was ich nicht begreifen wollte.
Zu den nächsten Wagenstürmern gehörten auch wir. Wir ergatterten zwei Innenplätze. In einigen Minuten war der Wagen überfüllt, das stereotype ‚Besetzt’ der Schaffner schloß die Wageneingänge hermetisch ab.
Die Fahrt begann. Der Schaffner kassierte, ich bezahlte trotz Abwehr für beide.
Eine Unterhaltung wollte nicht so recht in Gang kommen.

Wenn das Mädel bloß nicht so reserviert wäre, ich musste ihr wohl nicht so recht imponieren.
In Treptow angekommen, sahen wir uns nach unseren Ausreißern um – nichts zu sehen.! Das Gedränge war auch hier groß, doch wies Fräulein Schulz, wenn auch in höflicher Form, meinen Arm zurück.
„Fräulein, ich darf wohl einmal neugierig sein; sind Sie in einem Korbwarengeschäft tätig?“
„Nein, das nicht, nur gehe ich Vertraulichkeiten gern aus dem Wege.“
„Entschuldigen Sie bitte, ich wollte mich keiner Vertraulichkeit schuldig machen, möchte nur nicht, dass wir uns verlieren! Das könnte für mich bei meiner angeborenen Ängstlichkeit und Schüchternheit recht unangenehm werden.“
Herzliches Lachen der neben mir schreitenden Unschuld „davon habe ich wirklich noch nichts bemerkt, sollten wir uns verlieren, dann bitte ‚Abtei’.“
„Huch!“ Das war deutlich gesprochen, fesselte mich aber umso mehr. Die Kleine hatte ‚Schmiß’. Wie konnte ich dieses Mädchen nur an mich ketten?

Würde ich als simpler Schneidergeselle so viel Schneid aufbringen können, um dieses gediegene Geschöpf zu erringen?
Schneider und Schumacher wurden schon seit jeher als weniger vollwertig angesehen, obwohl der alte Derflinger und Hans Sachs diesen Berufen zu höchstem Ruhm und Ehren angerechnet werden müssen. Konnte an mir nicht auch ein Atom solchen ‚Berufswitzes’ hängen geblieben sein?

Hurtig schritten wir aus. Alle Seiten meines angeborenen Humors und Mutterwitzes ließ ich spielen. Wenn das Herz voll ist, geht’s zum Munde über.
An diesem Tage traf ich mich selbst.
Mit innerlicher Freude stellte ich fest ‚Humor zündet!’ Bald plauderten wir wie alte Bekannte.
Aufgelegt trafen wir auf der Abtei ein.
Es ist dies eines der größten und bekanntesten Berliner Gartenlokale auf einer Insel inmitten der Spree.

Natur und Menschen haben hier eine Erholungs- und Vergnügungsstätte für die werktätige Bevölkerung Berlins geschaffen, die weit über Berlin hinaus bekannt und beliebt ist.

Uralte Baumbestände ließen schattige Plätze und Nischen entstehen, die von Erholungssuchenden und erhitzten Tanzpartnern gern aufgesucht werden. Flügge gewordene Menschenkinder finden in ihrem Liebesgeflüster Schutz vor profanen Blicken neidischer Mitmenschen.

 An den Ufern der Insel ziehen sich sonnige Terrassen entlang. Hier finden sich Väter und Mütter in teils wärmebedürftigerem Alter zum Schutz ihrer bedenklich heranwachsenden Küken und eine begeisterte Sportjugend zusammen.

 Stolz ziehen Segeljachten auf der hier besonders breiten Spree ihre Bahn. Sport- und Ruderboote kreuzen unter fröhlichen Tücherschwenken an der Abtei vorüber. Vollbesetzte Vergnügungsdampfer bringen Menschenmassen nach dieser sehenswürdigen Insel. Würfel-, Schießbuden und Belustigungen aller Art schafften Abwechslung für jung und alt.

Die Sonne vergoldet mit ihren wärmenden Strahlen das schon oft von Künstlerhänden festgehaltene ‚Berliner Sonntagsleben’.
Nach längerem Suchen fanden wir unsere Ausreißer, die einen frei gewordenen Tisch belegt hatten.
Eilfertig drängen sich hilfsbereite Kellner durch enggesetzte Tisch- und Stuhlreihen, um Bestellungen entgegenzunehmen.
Stundenlang erfreuten wir uns an dem bunten Treiben der Menge; abwechselnd, um den Tisch nicht „zu verlieren“, beteiligten auch wir uns daran.

Das schnarrende Glücksrad verhalf ‚uns’ zu einem Gummiball und einer Milchflasche. Eine Zigeunerin ließ „der Braut“ durch ihren Papagei für nur 10 Pfennige in einem Briefchen die ganze Zukunft verkünden, an einer Würfelbude erbeuteten wir einen Luftballon, den wir nach einigen Minuten ‚wunderbar knallen’ hörten. Befriedigt kehrten wir zu unseren Verwandten zurück.

 Der Vetter nebst Braut hatten bereits ihre Stullenpäckchen ausgepackt, meine Begleiterin tat das Gleiche; ich bestellte mir eine Riesenbockwurst mit Salat, wozu mir von meiner ‚rechten Seite’ wie ganz selbstverständlich eine Stulle angeboten wurde, die ich - noch selbstverständlicher - mit einem Glücksempfinden annahm.
Eine Stulle, in dieser Form serviert, verpflichtet. Der Kellner musste die erforderlichen Getränke herbeischaffen.
Kurz vor dem Feuerwerk kassiert dieser freundliche Mann.

Bitte: Eine Wurst mit Salat – dreißig, zwei Bier – vierzig, eine Brause für Fräulein Braut – fünfundzwanzig, zwei Zigarren – zwanzig und ein Bier von vorher – zwanzig, zusammen eins fünfunddreißig. Ich zahlte 1,50, das musste ich schon des ‚Fräulein Braut’ wegen.
Bei diesen Worten hatte ‚Fräulein Braut’ gelächelt, während ich in meiner Glückseligkeit puderrot wurde. In der jetzigen Zeit soll das umgekehrt sein.
Ein gedanklicher Rückblick über den finanziellen Verlauf des Tages ergab das Vorhandensein von einer Mark fünfzig Pfennig als Barbestand.
Unvermutet erschüttert ein Böllerschuss die Luft und lässt uns zusammenschrecken. Das Brillant-Feuerwerk nimmt seinen Anfang.
Schnell wird zusammengepackt. Die Tische unter den Bäumen leeren sich, alles strebt einem günstigen Platze zu.

Raketen und Leuchtkugeln in allen Farben durchschwirren fauchend die Luft. Explosionen schleudern Sternengebilde nach allen Richtungen, feurige Sonnenräder drehen sich in immer rasenderer Geschwindigkeit, um mit dröhnendem Geknatter zu zerplatzen. Einige schwere Explosionen, sekundenlange Pause, dann ein Bersten und Explodieren hoch oben – wohl an die hundert Strahlenbündel täuschen in der Luft liegende, von der Sonne beleuchtete Ährengarben unglaubhaft naturgetreu wieder. Fast eine halbe Stunde währte dieser Feuerzauber.

In gehobener Stimmung wurde der Heimweg angetreten.
Auf Bahnhof Treptow das übliche Gedränge; wir mussten zweiter Klasse benutzen, nur um mitzukommen.
Der Abend sollte einen würdigen Abschluss finden, wir verließen den Zug am Alexanderplatz und kehrten in der Konditorei Aschinger ein.
Starke Unruhe zwang mich, kurz vor Aufbruch, einen stillen Ort aufzusuchen, wo ich zu meinem Schrecken feststellen musste, ‚Barbestand – eine Mark zwanzig Pfennige’“! Soviel machte gerade die Zeche für meine Begleiterin und mich. Wo sollte ich Trinkgeld für den Kellner und Fahrgeld nach Hause hernehmen? Trinkgeldzwang gab es seinerzeit, Gott sei dank, noch nicht. Gelegenheit, mich dem Vetter anzuvertrauen, wurde mir auch nicht gegeben – ‚Schicksal nimm Deinen Lauf !’
Alles Blut schien mir zu Kopf zu steigen.
Zum Tisch zurückgekehrt, stellte sich auch der Kellner ein. Eine Mark zwanzig Pfennige, die ich ‚von oben herab’ in Kleingeld der Westentasche entnahm und auf den Tisch zählte, strich der Kellner mit ‚Besten Dank’ ein.
 Die Uhr zeigte zwölf Uhr Mitternacht, als wir auf dem Alexanderplatz standen.

„Wir wollen uns hier verabschieden“ sagte Vetter Eduard, „Du begleitest meine Schwägerin wohl noch nach Hause; also gute Nacht und angenehme Ruhe !“
Da stand ich als Kavalier angeputzt, ohne Geld in der Tasche neben einem lieben Mädel. Jeder Hund hätte seine Freude an meinen frischgebügelten Hosenbeinen gehabt !
 „Herr Jetschke, es ist zwölf Uhr, um diese Zeit träume ich sonst schon, ich fahre für zehn Pfennig nach Hause. Sie haben dieselbe Strecke, da sind wir bis Friedrichstraße zusammen. Von dort habe ich nur noch zehn Minuten zu laufen.“
„Liebes Fräulein, wir können doch das Stück durch die Neue Königstraße, Unter den Linden, Friedrich- und Leipzigerstraße laufen, ich möchte mich Ihnen gegenüber einmal so recht nett ausplaudern, einem Vetter gegenüber kann man das doch nicht und sonst habe ich niemand in dem großen Berlin. Ich bitte Sie recht herzlich darum !“
„Nein, Herr Jetschke, für heute muss es genug sein, wir treffen uns vielleicht später noch einmal, bitte kommen Sie !“
„Fräulein Schulz, die heute verlebten Stunden sind mir unvergesslich, erfüllen Sie mir doch meinen Wunsch; wir können ja etwas schärfer zugehen, dann sind wir in einer halben Stunde an Ort und Stelle.“
„Ich bedaure, meine Füße schmerzen mich, vielleicht würde ich Sie auch recht enttäuschen müssen.“
„Sie enttäuschen mich bestimmt nicht, wir können ja auch etwas gemütlicher laufen, damit die Füße nicht mehr schmerzen.“
„Kommen Sie schon, Sie Quälgeist, laufen wir, sonst stehen wir in einer Stunde noch hier, mein Fahrgeld hätte ich bestimmt allein bezahlt - !?“
„Um Gottes Willen Fräulein, wenn Sie so etwas von mir denken, dann fahren wir!“
Das war doch von mir aus wirklich die Frechheit auf die Spitze getrieben, ohne einen Pfennig Geld in der Tasche so ein gewagtes Auftreten.
Meine Berechnung ging glatt auf.
 „So habe ich das wirklich nicht gemeint, wir wollen uns etwas beeilen und zu Fuß gehen“.
Mich schmerzten die Füße ja schon längst, die Vermeidung einer unglaublichen Blamage ließen mich diesen Schmerz vergessen.
Vergebens versuchte ich meiner Begleiterin den Arm anzubieten. Plaudernd schritten wir nebeneinander her.

In wonnigem Glücksempfinden erzählte ich meinen ganzen Lebenslauf. Ein Angetrunkener torkelte gegen Fräulein Schulz, das veranlasste sie, meinen Arm doch noch anzunehmen.
Nichts fehlt nunmehr zur Zufriedenheit.
Anreden wie: „Liebes Fräulein, Fräulein Berta, liebes Fräulein Berta“ usw. flochten sich in die lebhafte Wiedergabe meines bisher wenig glückhaft verlaufenden Daseins so ein, dass sie im Zusammenhang mit meinem Bericht, dessen Zweck und Sinn unzweideutig darlegten.
„Das war mein bisheriges Leben“, schloss ich meine Erzählung, in der mich meine Zuhörerin durch nichts unterbrochen hatte. „Können Sie nun mein Sehnen nach einem lieben herzigen Mädel, wie Sie es sind, begreifen?“
„Herr Jetschke, ich verstehe Sie vollkommen, Ihre Schilderungen gehen mir nahe. Ich werde noch oft darüber nachdenken und hoffe nur, Ihr ferneres Leben möge sich für Sie leichter gestalten. Haben Sie vielen Dank für die Begleitung; um die Ecke, und ich bin zuhause. Gute Nacht, und vielleicht auf Wiedersehen.“
„Wann kann das wohl sein, Fräulein Berta?“
„Wenn wir uns einmal bei meinem Schwager treffen.“
„Liebes Bertchen, dann würde ich täglich zu meinem Vetter hin- und zurücklaufen und täglich schmerzlicher enttäuscht nach Hause kommen. In vier Wochen wäre ich nicht mehr zu erkennen. Bitte, bestimmen Sie doch einen Tag, das gibt mir dann Hoffnung, von der ich bis zum Wiedersehen zehren will.“
„Nur alle vierzehn Tage habe ich Ausgang. Es könnte dann also in vierzehn Tagen zwischen zwei und vier Uhr nachmittags sein und zwar Leipziger – Ecke Markgrafenstraße.“
Was ich kaum erhofft hatte, war eingetreten. Mein Glück war vollständig.

In einer impulsiven Aufwallung riss ich das Mädel an mich und drückte ihr einen herzhaften Kuß auf – die Straße war nur wenig belebt.
„Das war sehr ungezogen von Ihnen, ich werde es mir noch sehr überlegen, ob ich mein Versprechen nunmehr einhalten darf.“
„Liebes Bertchen, verzeih’ mein stürmisches Benehmen, ich bin ja so überglücklich in Dich verschossen und hab’ Dich so herzenslieb, dass ich Dich nicht mehr loslassen möchte. Bitte, bitte komm in vierzehn Tagen, wie verabredet.“
„Eigentlich sollte ich es nicht tun, Sie schlechter Mensch, und nun gute Nacht.“
„Mein liebes Bertchen, eine gute Nacht habe ich bestimmt, wenn sie auch schlaflos sein wird, ach’ doch mein Glück voll und sag’ ‚Du’ zu mir, wie ich zu Dir!“
„Vielleicht später einmal, heute noch nicht.“
„Vielleicht - ? Mädel, wahrhaftig, ich sitze auch morgen oder vielleicht heute früh hier. Du kannst mir das glauben und Dich davon überzeugen. Bitte sag’ ‚Du’ zu mir.“
Es lag so viel Ernst in meinen Worten, sie musste mir das wohl zutrauen.
„Komm gut nach Hause!“ sagte sie nur.

„Hab’ vielen, vielen Dank für diese Worte, jetzt will ich auch gerne gehen.“
Ein herzinniger, nur scheu erwiderter Kuss besiegelte eine ‚Liebe auf den ersten Blick’.

Als wir uns trennten, kündete eine Turmuhr die zweite Morgenstunde.
Das Herz voll Jubel, die Taschen leer, trat ich zu Fuß den Heimweg an. Alles um mich herum war nichts gegen das Glücksgefühl in meinem Herzen. Müden Ganges ließ ich die schönen Stunden nochmals an mir vorüberziehen.

Ab und zu schreckte mich eine zweifelhafte Schöne mit derben Worten aus meinen Träumen. Angewidert von solcher Erniedrigung wandte ich mich ab, konnte ich doch nicht wissen, dass es oft erst biterster Not, Elend und gar Schläge bedurfte, um manches der Mädchen zu diesem bedauerlichen ‚Gewerbe’ zu veranlassen.
Von der Weddingkirche ertönte die dritte Morgenstunde.
Langsam belebten sich die Straßen Berlins.

Milch-, Gemüse- und Fleischwagen strebten den Bahnhöfen und der Zentralmarkthalle zu. ‚Laternenlöscher’ mit langen Stangen begannen das Tagewerk. Das Nachtleben verlor seinen ‚Glanz’.

Nur wenige Stunden Schlaf brachten mich zur Wirklichkeit zurück.

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 Unsere Liebe nahm den Weg aller Liebe, die auf ‚Nichts’ aufgebaut wird. Ich hatte nichts, Sie hatte das Doppelte davon; wir fühlten uns dennoch glücklich dabei.
 Die Zeit des Besuches der Zuschneiderschule war herangekommen. Vater hatte es durch Entbehrungen ermöglicht, dass ich einen Kursus durchmachen konnte. Einen Betrag von 400 Mark zu erübrigen, wollte bei einer Familie von sechs erwachsenen Kindern schon etwas bedeuten.
Die Stellungen als Zuschneider waren nicht so dick gesät, auch wurden erfahrene Kräfte bevorzugt.
Ehe ich eine Stellung als Zuschneider antrat, bewarb ich mich bei den Eltern meiner Zukünftigen um ihre Tochter.
Eine Antwort bekam ich nicht.
Beim nächsten Zusammentreffen überreichte mir mein Mädelchen einen Brief ihrer Mutter. Er hatte unter anderem auch folgende Sätze: „Wie wir erfahren haben, treibt sich Dein Verehrer in den Weinkneipen und Lokalen der Friedrichstraße herum“, - ich arbeitete in der Friedrichstraße – „und hat selten Geld. Einen Schneider bekommst Du doch noch alle Tage. Bringe uns nicht diesen fremdem Menschen in’s Haus“ usw.
Meine Zukünftige weinte. Ich versuchte zu trösten, obwohl ich selbst des Trostes bedurfte. Treu wollten wir zusammenhalten, was auch kommen möge, das versprachen wir uns erneut.
Selten hatte ich freilich so viel Geld, um davon zurücklegen zu können. Was waren fünfzehn Mark Wochenverdienst? Das reichte wohl kaum, um auch nur einen Abend in der beschuldigten Weise zu verbringen.

Wie gern hätte ich der Braut den goldenen Reif an die linke Hand gesteckt!

Wo der Wille ist, da ist auch ein Weg. Acht Tage später glänzten die glatten Reifen an unseren Händen, einfache Verlobungsanzeigen gingen zu den nächsten Verwandten und Bekannten.

Der Verlobungsanzeige an die Brauteltern legte ich folgende persönliche Zeilen bei:
"Werte Frau Schulz!
Von Ihrem Brief erhielt ich durch Ihre liebe Tochter Kenntnis. Es tut mit leid, dass Sie auf Grund einer hässlichen Verleumdung so schnell mit einem wenig günstigen Urteil zur Hand sind. Dabei sind wir uns persönlich noch gar nicht bekannt. Wenn ich Ihre Tochter nicht so herzlich lieb hätte und mich nicht in Ihre Lage hineindenken könnte, würde ich mit gleicher Münze heimzahlen und Ihnen empfehlen: ‚Setzen Sie sich Ihre Tochter in den Glasschrank -! Vorausgesetzt, dass sie das Verlangen danach hat. Dass dem jedoch nicht so ist, können Sie aus beigefügter Verlobungsanzeige ersehen. Am kommenden Sonntag stelle ich Berta meinen Eltern – Sekretär Berthold Jetschke in Merseburg – als zukünftige Schwiegertochter vor. Acht Tage später stellt sich der ‚fremde Mensch’ als Verlobter Ihrer Tochter bei Ihnen vor. Sie werden Ihr Urteil dann bestimmt ändern und erkennen müssen, Schneider sind auch Menschen!
Mit freundlichem Gruß
Berthold Jetschke“

Die Reise zum Besuch beider Elternpaare wurde durchgeführt, das Geld dazu ‚vom Munde abgespart’.
Am besagten Sonntag begrüßten und beglückwünschten uns Geschwister von mir in Merseburg auf dem Bahnhofe. Auch die Eltern waren sehr herzlich und gewannen sich sofort die Zuneigung meiner Braut.
Eine bescheidene Verlobungsfeier brachte uns familiär zusammen. Mit Ermahnungen für die Zukunft und Versprechungen unsererseits, den Brauteltern nichts nachzutragen, verließen wir tiefbeglückt meinen Geburtsort.

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Kummerow, wunderschön an der hügeligen Südostseite der Mark Brandenburg gelegen, ist ein Dorf von etwa zweihundert Einwohnern. In Windungen passt sich die Dorfstraße dem Gelände an.
Munter fließt ein Bach am Rande des Dorfes entlang, um abwärts den Mühlteich eines Klosters zu durchziehen.
Kleine Bauerngehöfte und Katen bilden den Bestand dieses Dorfes.
Angelehnt an einem Hügel, steht – zur Zeit unter Denkmalschutz – eine Kate aus Lehm gebaut. Das bemooste Strohdach schützt die zu ebener Erde gelegenen Räume. An der Hinterseite erreicht es fast den aufsteigenden Hügel.
Ein schmaler Weg führt von der Dorfstraße schräg aufsteigend zum Eingang, dem einige Stufen vorgelagert sind. Die Haustür ist in eine obere und untere Hälfte geteilt, die jede für sich geöffnet werden kann.
Rechts vom Hausflur führt eine mit dem „Schutzzeichen der Heiligen Drei Könige“ versehene Tür (C.M.B.) in die einzige Wohnstube. Eine Lehmwand, türlos durchbrochen, trennt die auch als Schlafraum dienende schmale Küche vom Wohnraum.
Wuchtig drängt sich der große Backsteinofen als unentbehrlichster Bestand der Kate zwischen Stube und Küche in die Räume ein. Die Ofenbank in der Stube ist der beliebteste Platz im Hause; was könnte sie nicht alles erzählen ---- ?
In den das Dach fast berührenden Hügel ist ein Keller eingebaut, dessen Zugang von der Küche erreichbar ist.

Durch eine Schutztür getrennt steht im Hausflur gegenüber dem Eingang der Backofen, fest eingemauert. An der linken Seite hinter der Haustür liegt das ‚Ausgedinge’, ein kleiner Schlafraum in dem sich die ‚Alten’ zurückziehen, sowie der Nachwuchs die Kate übernimmt.
Der Boden endlich ist durch eine Leiter erreichbar, die vom Hausflur an eine Falltür gelegt wird.
Aufgeschüttet, um das starke Gefälle abzuschwächen, liegt seitwärts der kleine Hof mit Stallgebäude.
Versteckt, als wenn es sich seines Daseins schämt, steht ein unscheinbares Holzhäuschen, innen anspruchslos mit einer Querstange ausgestattet. Nur die Tür hat im obere Teil einen herzförmigen Ausschnitt -!

Diese, so verträumt und idyllisch gelegene Kate ist die Geburtsstätte meiner herzlieben Verlobten.

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Der Tag des angekündigten ersten Besuches der zukünftigen Schwiegereltern war herangekommen. Mit dem Frühzug verließen wir Berlin.
In Neuzelle angekommen, standen wir mutterseelenallein auf dem Bahnsteig. Niemand war zum Empfang gekommen.
Nach einem Fußweg von dreiviertel Stunde erreichten wir das Ziel. Die Eltern waren nicht zu Hause. Wie uns die Schwester der Baut mitteilte, mussten die Eltern bald aus der Kirche kommen.
Schwiegervater war Chausseewärter und hatte mit nur vierzig Mark Monatslohn eine vierköpfige Familie zu erhalten; ohne Nebenverdienst wäre das kaum möglich gewesen.
Der alte Herr, groß und hager mit freundlichen Gesichtszügen, trat bald ein. Er begrüßte mich: „Herzlich willkommen mein lieber Junge, ich gratuliere, werdet beide glücklich. Unsere Mutter wird auch gleich kommen, nehmt ihr nicht’s übel, es ist ja alles nicht böse gemeint-!“
Die herzlichen Worte dieses einfachen Mannes taten mir recht wohl.
Auch die Schwiegermutter trat ein. Auf halben Weg ging ich ihr entgegen. Sie sprach nichts, sah mich auch nicht an.
 „Frau Schulz, ich freue mich, dass mich Ihr Mann willkommen geheißen und beglückwünscht hat. Sie werden mich hoffentlich näher kennen lernen. Ich bin nicht der Lebemensch, für den Sie mich nach der Verleumdung halten müssen. Machen Sie sich keine Sorgen, Ihre Tochter und ich haben uns ja so herzlich gern. Wir kommen bestimmt gut durch’s Leben. Sie haben für Berta etwas besseres erhofft, Sie sollen noch einmal Ihre Freude an uns haben.“

Der von schwerer Arbeit gebeugten Frau liefen Tränen über ihre verhärmten Wangen, das ergriff mich so, dass ich nicht mehr weitersprechen konnte und auch meine Augen feuchten Glanz annahmen.
Schluchzend reichte sie mir die Hand, „Gott segne Ihren Eingang!“ Bald hatte sie sich beruhigt und sprach von einem Briefe, den ihr der Verlobte ihrer Tochter Anna – also Vetter Eduard – geschrieben habe.
„Ich wollte doch nicht, dass Berta ins Unglück rennt!“
Konnte ich der gebeugten, sorgenden Mutter nach solchen Worten noch zürnen? Der Bann war gebrochen, wieder einmal hatte die Liebe gesiegt.

Wenn auch die spätere Ehe manche gefährliche Klippe umsegeln musste, die alte Frau konnte noch den Aufstieg ihres Schwiegersohnes erleben. Stolz und Zufriedenheit aber sprachen aus ihren Augen, als der zehnjährige Enkelsohn in der Schülermütze des Realgymnasiums vor ihr stand. Sie ruhte nicht eher, bis ich ihr ein Goldstück für die Weiterbildung ihres ‚Holdi’ abgenommen hatte.
„Nun, Mutter“, konnte ich mich nicht enthalten zu fragen, „Du bist wohl doch mit dem ‚fremden Menschen’ zufrieden?“
„Du hast mir bisher mehr Freude bereitet, als meine Kinder zusammen!“, sagte die Schwiegermutter ehrlich.
Ein herzlicher Kuß von mir, unter dem die alte Frau wie ein junges Mädchen errötete, mochte ihr meinen Dank für diese Anerkennung bezeugen

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 „Weiter schreitet die Zeit, mit ihr auch Freud’ und Leid“

Die Zuschneideschule hatte ich besucht und in einigen Betrieben Stellung als Zuschneider gefunden. Die letzte Stellung trennte uns voneinander und wurde schwer ertragen. Liebesbriefe kreuzten hin und her. So viel Herzlichkeit und Innigkeit gab es ja auf der ganzen Welt nicht, wie da dem Papier anvertraut wurde.

Verständlicher weise werden nur allzu gern diese Liebeserinnerungen vergangener Jugend den profanen Blicken wissensdurstiger Mitmenschen entzogen, noch dazu, wenn sie im Überschwange geschrieben sind.

Eine Zeit lang fristen sie noch wohlverwahrt ihr Dasein, sind aber erst Kinder vorhanden, dann schämen sich die ernsten Menschen – meist ganz unberechtigt – ihrer Jugendphantastereien. Nichts kann den inneren Wert eines Menschen deutlicher zeigen als ein Liebesbrief – wenn er ehrlich gemeint ist. Einen der letzten Briefe an meine Verlobte und deren Antwort will ich hier, fast wörtlich rekonstruiert, wiedergeben:

 „Mein herzallerliebstes Mädelchen!

Deinen lieben Brief vom 1.3. habe ich erhalten. Was helfen mir alle Ermahnungen zum Ausharren und Versicherungen treuer Liebe, wenn doch so gar keine Aussichten auf Verwirklichung unserer Wünsche bestehen. Herziger Schatz, die Luftschlösser, die wir in traulichen Stunden vereint aufgebaut haben, werden kleiner und kleiner und stürzen doch immer wieder zusammen. Das letzte und anspruchloseste dieser Schlösser, dass Meister Krebs entworfen hat, darf nicht mehr zum Einsturz kommen, ich fürchte sonst Dich, mein Alles, zu verlieren; das könnte ich nicht überleben.

Die Vorschläge unseres Freundes, nach Berlin zurückzukehren und mich selbständig zu machen, müssen sich durchführen lassen. Bei einhundertzwanzig Mark Gehalt in einer monatlich kündbaren Stellung mit der Aussicht, in kurzen Zeiträumen den Wohnort wechseln zu müssen, können wir an eine gedeihliche Ehe gar nicht denken. Liebes Mädel, es sind doch nun einmal nur größere Geschäfte, die sich einen Zuschneider mit langen Verträgen halten können. Diese Stellen sind fest besetzt und werden bei Neuausschreibungen von Kräften mit langjährigen Zeugnissen überrannt. Ich habe meinen mit Unlust übernommenen Beruf eben zu spät ergriffen. Herzinnig geliebter Strolch, am 15. d.Mts. kündige ich hier, am 1.4. sehen wir uns wieder, um nie mehr auseinander zu gehen; ich kann nicht mehr ohne Dich sein! Im Herbst ist Du meine liebe süße Frau und ein Jahr säter -??
Mein Herzenslump, freust Du Dich?

Wie wir unser letztes Luftschloß trotz unserer mehr als bescheidenen Barmittel fest untermauern können, damit es nicht einstürzt, wollen wir nach meiner Rückkehr mit unserem gemeinsamen Freund beraten.
Ich schließe in Sehnsucht nach einer innigen Umarmung und mit tausend Küssen

Dein Dich innig und treuliebender Berthold

N.B. Bitte , bitte enttäusche mich nicht mit Deiner Antwort.“

Wer selbst einmal jung war und innig liebte, den Ernst im Inhalt dieses Briefes nicht übersieht und die daraus sprechende Sehsucht nach dem Leben versteht, wird auch am Überschwang noch Freude empfinden. Ruhiger, abgeklärter und dennoch herzlich und sehnend schmiegt sich die Antwort an, die drei Tage später ankam:

„Mein lieber guter Schatz !

Ich habe mich über Deinen lieben Brief gefreut und – sei mir deshalb nicht böse – der Frau Doktor zu lesen gegeben, weil ich stolz auf Dich bin. Ich hätte es nicht tun sollen. Die Frau Doktor hat mit ihrem Mann darüber gesprochen, und beide haben mir nicht nur abgeraten, Deinen Wünschen nachzukommen, sondern mir sogar zugeredet, die Verlobung aufzuheben. Ich bekäme doch jederzeit einen ‚Kleinen Beamten’ usw.

Lieber Schatz, ich freue mich, wenn wir im Herbst heiraten könnten, obwohl ich mir auch schwere Gedanken über unsere Zukunft mache. Gertrud, das Mädchen vom Photographen sagt, einem Manne, der solche Briefe schreibt, würde sie das gegebene Versprechen halten. Ich halte es auch, mein lieber Kleiner ! Es sind doch schon so viele Menschen glücklich geworden, die auch nichts hatten. Wenn ich nur eine Ahnung von der Schneiderei hätte. Ganz offen gesagt, Lust dazu habe ich gar nicht. Wenn es einmal schief ginge, würde ich lieber außerhalb des Hauses arbeiten gehen, um vorwärts zu kommen. Wie werden sich unsere Eltern zu der Sache stellen? Wir wollen das beste vom Schicksal erhoffen. Mache Dir keine dummen Gedanken mehr, auch ich freue mich auf baldiges Wiedersehen und sehne mich danach. Meiner Herrschaft werde ich Dich noch vorstellen, damit sie anders über Dich denken lernen. Wenn Du erst hier bist, kannst Du vorläufig bei Meister Krebs unterkommen. Es ist zehn Uhr, der Brief soll noch schnell in den Kasten, ich muss sowieso noch mit dem WauWau runter.
Gute Nacht! Es küsst Dich vielmals und herzlich

Deine treue Braut.“

Das sind zwei Briefe wie so viele andere auch und doch wieder anders, weil sie uns tief in die Herzen zweier junger Menschenkinder blicken lassen, die von Glaube, Liebe und Hoffnung für die Zukunft beseelt sind, von der sie alles erhoffen.......
 Auf Bahnhof Friedrichstraße stehen, mehr oder weniger freudig erregte Menschen einzeln und in Gruppen und erwarten den angekündigten Zug. Es ist das alltägliche Leben eines Großstadtbahnhofes.
Der rotbemützte Aufsichtsbeamte wird mit allen möglichen Fragen bestürmt, die er mit gleichbleibender Höflichkeit beantwortet. Sein warnender Zuruf „Achtung! Zug aus Richtung Schneidemühl – Posen – Frankfurt fährt auf Bahnsteig B ein, bitte zurücktreten“ bringt Bewegung in die Menge.
Bis zum Haltezeichen fährt der Zug langsam vor. Noch bevor er zum Halten gekommen ist, machen sich Reisende durch Schwenken weißer Tücher bemerkbar. Buntes Durcheinander, Rufe nach dem Gepäckträger, Ausrufen der Zeitungen und Anbieten vom fahrenden Erfrischungswagen beleben das Ganze.

Auch Berthold ist mit diesem Zuge, der ihn dem ersehnten Glück zuführen soll, eingetroffen und ganz überrascht, als er von seiner Verlobten unerwartet begrüßt wird. Trotz aller Schwierigkeiten hat sie sich von der Arbeit freigemacht, um den Herzliebsten zu empfangen und ihm als erste wichtige Entscheidungen für das zukünftige Leben mitzuteilen.

 Alles weitere darüber lassen wir besser wieder unseren Großvater erzählen....

 Ich war ganz erstaunt über den herzlichen Empfang durch meine liebe Braut, die ich bei ihren ‚Herrschaften’ wähnte. Da sie sich für den Nachmittag freigenommen hatte, legten wir den Weg nach dem Berliner Norden zu Fuß zurück.
Am Nettelbeckplatz, der seinerzeit noch schmucke Grünanlagen aufwies, machte sie vor einer ‚Berliner Mietskaserne’ (Häuser mit ausschließlich kleinen Wohnungen) Halt. An der Hautür war ein Zettel befestigt: ‚Zwei Zimmer und Küche, Vorderhaus 4 Treppen ab sofort vermietbar. Mietpreis fünfundzwanzig Mark monatlich, Anfragen beim Hauswirt’.
 „Diese Wohnung habe ich mir angesehen“, sagte meine zukünftige Frau. „Die Zimmer sind nach vorn, die Küche nach hinten gelegen. Für den Anfang müsste sie schon genügen. Dem Wirt habe ich gesagt, dass wir im Herbst heiraten wollen, die Wohnung aber schon zum 1. Mai beziehen müssen, um eine Schneiderwerkstatt einzurichten. Ich sollte mit Dir zusammen noch einmal vorsprechen.“
Erwartungsvoll kletterte ich 4 Treppen hoch. Jede Etage hatte drei Wohnungen, von denen zwei einen gemeinsamen Eingang besaßen.

Früher standen in Berlin bald mehr Wohnungen leer als verlangt wurden. Die Hauseigentümer waren daher auch entgegenkommender als heute. Auf unseren Hinweis, dass zwei Personen die Wohnung doch nicht so beanspruchen wie eine fünfköpfige Familie, wurde der Mietpreis auf 23 Mark herabgesetzt.

Anderntags wurde der Vertrag geschlossen. Der erste Schritt zur Selbständigkeit war getan. Die Eltern wurden verständigt und schickten uns an noch brauchbarem Hausrat, was sie entbehren konnten. Das Handwerkzeug für die Werkstatt spendete der Bruder Max, selbst Handwerksmeister. Federbetten waren die im voraus gestiftete Hochzeitsgabe der Brauteltern. So war schon vieles für die Eröffnung einer Schneiderwerkstatt getan, noch mehr fehlte.

 Einhundertfünfzig Mark Spargeld standen an Ersparnissen noch zur Verfügung. Fast täglich rechneten wir die unbedingt noch erforderlichen Anschaffungen aus. Fünfhundertvierzig Mark waren das wenigste, was wir bei größter Einschränkung benötigten; dabei war vorläufig nur ein Bett in Betracht gezogen worden, da die Hochzeit ja erst im Herbst stattfinden sollte.

Für wen waren eigentlich die Abzahlungsgeschäfte vorhanden? Hier war eine ‚Rettung’, glaubten wir und ahnten dabei nicht, dass es fast unser Untergang sein sollte. Mit fünfundsiebzig Mark Anzahlung richteten wir unser bescheidenes Heim einschließlich der Werkstube ein und vergrößerten damit die monatlichen Ausgaben um dreißig Mark. Es würde schon alles glatt gehen, Tag und Nacht wollte ich arbeiten.

 Am 1. Mai 1903 prangte am Hauseingang ein weißes Schild in bescheidener Größe:

Berthold Jetschke

Maßschneiderei und Reparaturwerkstatt

Vorn 4 Tr. rechts

Stillsitzen und auf Kundschaft warten, war ausgeschlossen, also beschaffte ich mir als Zwischenmeister Arbeit für eine größere Konfektionsfirma. Eine Umstellung von Maß- auf Konfektionsarbeit st schwierig. Wer als Zwischenmeister auf Konfektionsarbeit etwas verdienen will, muß sich zum Spezialisten ausbilden und nach Möglichkeit Spezialmaschinen anschaffen; diese kosten jedoch Geld, und Geld war nicht vorhanden. Der Verdienst aus der Betätigung als Zwischenmeister hielt sich demnach in recht mäßigen Grenzen.

Erschwerend kam noch hinzu, dass ich alle Hausarbeit einschließlich der Kocherei allein ausführen musste. Die Zukünftige war ja noch in Stellung.
Mittagessen wurde bald zum Fremdwort, jedenfalls bestand es zu neunzig Prozent aus Maggi- und anderen Suppen sowie dünn bestrichenen Broten, die ich mir selbst zurechtmachte. Für das Essen im Lokal fehlte meist die Zeit, noch mehr aber das Geld.
Wo blieben die schönen Stunden, die sonst der Braut gehörten? Alle vierzehn Tage sahen wir uns Sonntags nachmittags zum ‚Großreinemachen’.

Beim ersten Großreinemachen fielen der Verlobten verschiedene Flecke am Fußboden auf. Die Ursache waren schwarze Käferchen in der Größe von Maikäfern, die nachts schon wiederholt unter meinen Füßen zerknallt waren, wenn ich im Dunkeln aufstehen musste.
Unsere Nachforschungen führten zu den Brutstellen der Schaben in den Rillen und Rissen des Kachelherdes. Zu unserem Schreck waren auch die Tapeten nicht unbelebt und zeigten Spuren der ‚Berliner Wanzen’. - Das Glück war vollkommen!
Ein Teil der Berliner alten Häuser hat es ja bekanntermaßen ‚in sich’!
Mit größter Verbissenheit, Ausdauer und dem nötigen Insektenpulver waren die Plagegeister bald gründlich dezimiert. Ganz weg brachten wir sie nie, da sie sich auf Schleichwegen aus den Nachbarwohnungen heranpürschten....
Wieder einmal war ein Sonntag, den ich allein zubringen sollte, da die zukünftige Ehefrau keinen Ausgang hatte.
Übermüdet hatte ich bis neun Uhr vormittags geschlafen und stand, missmutig über die viele Arbeit bei geringem Verdienst, auf.
Wenn doch nur die zweieinhalb Monate bis zur Hochzeit vergangen wären, dann würde doch alles viel leichter sein. Heute wieder den ganzen Tag für mich allein -!?

Sehnsucht nach meinem lieben Bertchen ergriff mich. Ich musste sie sehen, und wenn ich nur einen ‚Guten Tag’ wünschen und ihr vielleicht einen verstohlenen Kuß aufdrücken konnte, dann ‚hinge der Himmel voller Geigen’ für mich und ich hätte wieder Mut für die kommende Woche. Wie ließ sich das wohl bewerkstelligen?
Meine Braut hatte mich schon längst ihren ‚Herrschaften’ vorstellen wollen. Ich würde ganz einfach zu Doktors fahren, den ‚Herrschaftsaufgang’ benutzen und um eine dringende Aussprache mit meiner Verlobten bitten. Dagegen konnte nichts einzuwenden sein, ich musste mein Ziel erreichen.
Schnell kleidete ich mich an, räumte die Werkstatt auf und ging an die Zubereitung des Mittagessens.
Ein halb’ Pfund Schabefleisch – von dem am Vortage 5 Stullen hauchdünn bestrichen waren -, zwei aufgeweichte Brötchen, ein Ei, Zwiebel, Pfeffer, Salz und eine Prise Kümmel wurden verrührt, zu einem ‚Falschen Hasen’ geformt, mit einem Esslöffel Fassfett auf beiden Seiten gut angebräunt und unter Zugabe von feingeschnittener Zwiebel, Salz und Pfeffer für die Soße langsam durchgeschmort. Mit etwas Mehl und dem Rest der sauer gewordenen Milch wurde die ‚Bratensoße’ schön eingedickt. Es war doch gut, dass ich als Junge solch großer ‚Toppkieker’ gewesen war, das kam mir jetzt zugute. Der ‚Hasenbraten’ hatte einen pikanten Geschmack, obwohl einige Champignonbrocken der Soße ein noch würzigeres Aroma verliehen hätten. Prima, prima, würde jede unverwöhnte Hausfrau zu diesem ‚Götterfraß’ gesagt haben.
Der Restbraten war für den nächsten Tag zur Seite gestellt, das Geschirr gereinigt und gründlich aufgeräumt worden. Nach den üblichen Verschönerungen des äußeren Menschen befand ich mich in Besuchsform. Punkt vier Uhr drückte ich stark klopfenden Herzens auf den Klingelknopf unter dem Schild:

 

„Zahnarzt Dr. Max Stölzer
Sprechstunden:
Täglich von 8 – 12 und 2 – 4 Uhr
außer Sonntags.“

Also war heute keine Sprechstunde.

Schritte auf dem Korridor wurden hörbar. Hinter den Mattglasscheiben der das ganze Treppenhaus einnehmenden Flurtür schwebte ‚etwas weißes’ heran und öffnete vorsichtig die Tür – meine liebe Braut. Zum Anbeißen sah sie in ihrem weißen Tändelschürzchen und Häubchen aus.
„Ja, Berthold, was führt denn Dich so überraschend nach hier?“
„Mein liebes Kind ! Würdest Du mich bitte der Frau Doktor melden, ich hab’ verschiedenes mit Dir zu besprechen, vielleicht gibt sie Dir ein halbes Stündchen frei.“
„Liebling, das ist leider nicht möglich, die Herrschaften sind zu Verwandten gefahren und kommen vor dem Abendessen nicht zurück. Du darfst dennoch eintreten, meine Schulfreundin Alma Stöckert ist bei mir.“
Hocherfreut trat ich ein. Die Korridortür war kaum geschlossen, als ich meiner Braut einen herzinnigen Kuss aufgedrückt hatte.
„So, Du geliebter Strolch, weiter wollte ich überhaupt nichts von Dir, nun mache mich mit Deiner Landsmännin bekannt !“
In der Küche, wohin sie sich bescheidener Weise zurückgezogen hatte, lernte ich die Landsmännin gleich in ihrer burschikos offen herzlichen Art kennen.
„Na, da hätte ich meinen Besuch doch auf einen anderen Tag verlegen können“, sagte das drollige Mädel, „warum hast Du mir das aber auch verschwiegen, Brautpaare wollen doch immer allein sein, allerdings nur bis zum Hochzeitstage“.
„Da muss ich widersprechen“ nahm ich die Antwort vorweg, „Bertchen war durch mein Erscheinen selbst überrumpelt worden“. Ich hatte die Absicht, mir von der Frau Doktor ein halbes Stündchen Freizeit für meine Braut zu erbitten“.
„Sind aber heilfroh, dass es jetzt ein gemütliches Stündchen wird, nur die Landsmännin dürfte nicht dabei sein. Lerne mir doch jemand die Männer kennen !“

Hin und her flogen die neckischen Worte, schnell war eine Stunde verflogen.
Von der Braut und ihrer Freundin bis zur Straßenbahn begleitet, trat ich zufrieden den Heimweg an. Mit Mut und Eifer sollte die neue Woche begonnen werden.

  ‚Die Hände gerühret und Freude im Sinn –
schafft leichthin die Arbeit und bringet Gewinn !’

 

Mit der Montagsleistung konnte ich zufrieden sein. Die Abendpost brachte neue Arbeit, die dringend geliefert werden sollte. Bald beschäftigte ich 8 Heimarbeiter, einen Einrichter und Bügler.
Spezialmaschinen fehlten an allen Ecken und Enden. Der Betrieb forderte mehr und mehr persönliche Arbeit. Lohnberechnungen, Erledigung der Kranken- und Invalidenkasse, Ablieferungen usw. waren neben den sonstigen Leistungen erforderlich.
An die Häuslichkeit konnte ich kaum noch denken.
Das Bett wurde abends so aufgesucht, wie es verlassen war. Brot und Kaffee – Kaffee und Brot waren die Hauptmahlzeiten.
Trotz größter Einschränkungen fehlte es an den Lohntagen nicht selten an Bargeld; das konnte unmöglich so weitergehen.

Die zukünftige ‚Frau Meisterin’ war einsichtig genug; sie konnte mit Einwilligung ihrer Arbeitgeberin vorzeitig ihre Stellung verlassen und die Hausarbeiten übernehmen. Das war für mich eine recht fühlbare Erleichterung.
Pech hatte das arme Mädel insofern, als ihr in ihrer Schlafstelle, die sie auf 2 Monate mietete, ein Reisekorb erbrochen und daraus Geld und Wertsachen entwendet wurden, die sie nie wieder sehen sollte.
Unter fleißiger Arbeit vergingen die Wochen wie im Fluge. Am 12. September 1903 hielt ein tapferes liebes Mädel ihren Einzug als Ehefrau in ihr eigenes Heim, um Freud’ und Leid mit mir zu teilen, und in Liebe getreulich bis an ihr Lebensende bei mir auszuharren.

Noch aber – fing unser Leben erst an.

Es wäre ungerecht, alle Freude und alles Leid, das ich mit meinem Bertchen erleben durfte, der Vergangenheit zu überantworten. Es waren die schönsten Tage meines Lebens – auch im Leid.

Manche auf unsicherem Boden aufgebaute Ehe wird der unseren ähneln und bei den Lesern unvergessliche Rückerinnerungen eigenen Erlebens wachrufen.

* * * * * * * * * * *

Dekorationsmaler Traugott Schlampert, unser Flurnachbar, hatte mit uns einen gemeinsamen Korridor. Hatte mit uns einen gemeinsamen Korridor. Drei stets hungrige Mädelchens von sieben, fünf und zwei Jahren brachten das knappe Kostgeld der Mutter bedenklich aus dem Gleichgewicht. Der Wochenlohn des Mannes wollte an keiner Ecke ausreichen. Trotzdem waren die Nachbarsleute verträglich und hilfsbereit. Die Kinder waren sehr folgsam und freuten sich über eine Stulle oder gar ein Stückchen Kuchen mehr, als andere Kinder über Spielzeug.
Traugott selbst war oft arbeitslos, das brachten die Jahreszeiten für manche Berufe leider so mit sich. Wenn die Arbeit wieder einsetzte, musste der Verdienst zum Teil zur Abtragung notwendig gewordener ‚Lepperschulden’ verwendet werden, waren alle Verbindlichkeiten abgedeckt, dann war erneute Arbeitslosigkeit nicht mehr fern. Sorgen gehören nun einmal in den ewigen Kreislauf der Menschen im allgemeinen, in den der Familie Schlampert jedoch im besonderen.
So kam es auch, dass Traugott an Lohntagen in der Destille einige Groschen hinunterspülte, um sie diesem verpönten Kreislauf zu entziehen.

Einmal kam Traugott Schlampert ‚überselig’ nach Hause. Lotterie – wonnen, Lotterie wohnen! lallte er immer wieder, weiter brachte er nichts heraus. Bald lag er auf einem übersintlichen Sofa aus Urgroßväters Zeiten und schnarchte drauf los. Selma, seine bessere Hälfte, wusste nichts von einem Lotterielos; neugierig kramte sie Traugotts Taschen aus, ohne einen Anhaltspunkt für das Vorhandensein eines Glücksloses zu finden, selbst das Portemonnaie mit dem fälligen Wochenlohn war und blieb verschwunden. Sollte Schlampert mit einigen Arbeitskameraden heimlich gespielt haben und Gewinn nebst Portemonnaie von diesen wegen Traugotts ‚Befinden’ zurückbehalten sein? Nur so war es auszudenken.

Am anderen Morgen kam Selma Schlampert mit rotverweinten Augen an und erzählte, dass der Malermeister die Hälfte der Belegschaft entlassen habe, ihr Traugott sei nicht dabei und das stelle er als Lotteriegewinn dar. Vom Geld und der Geldtasche wisse er nichts mehr, es musste bei dem Zechgelage mit den Entlassenen ‚verloren’ gegangen sein -.

 „Und das Unglück schreitet schnell“.
Zwei Stunden später brachte der Postbote für Schlamperts einen der so unbeliebten Einschreibebriefe, - die Räumungsklage vom Amtsgericht.
Frau Schlampert zerfloss bald in Tränen um die Familie.

Wenn die wenigen dürftigen Möbel, von den Eltern und Großeltern ererbt, nicht noch vor dem Termin anderweitig untergestellt werden konnten, mussten sie als Pfand für die schuldige Miete zurückbleiben, bis letztere bezahlt war. Das war gleichbedeutend mit Obdachlosigkeit der Familie, denn kein Hauswirt vermietet an eine Familie ohne Hausrat, der ihn schlimmsten Falles für ausfallende Miete als Pfandobjekt schadlos halten konnte.
All’ das Weinen änderte an der Tatsache nichts, das sah auch die besorgte Frau Schlampert ein. Bald ging sie zur Arbeitsstelle ihres Traugott und überließ ihm den Brief, mochte er zusehen, wie er seine Familie vor dem Allerschlimmsten schützen konnte.

Uns tat die Familie sehr leid, helfen konnte ihnen niemand. Der Armenvorsteher des Bezirkes konnte erst eingreifen, wenn der Ernährer arbeitslos war oder durch Krankheit und Tod für die Familie untragbare Verhältnisse eintraten. Beides war nicht der Fall. Arbeitslosenunterstützungen gab es seiner Zeit noch nicht.
Der Fall schien hoffnungslos, da nahte Rettung in Gestalt der Sonntagszeitung, die vor mir auf dem Kaffeetisch lag und die ich flüchtig überflog. Bauverein sucht für seine Häuser einen an selbständige Arbeiten gewohnten Maler in Dauerstellung bei freier Wohnung und tarifmäßiger Bezahlung zum sofortigen Eintritt. Persönliche Meldung usw.
Traugott Schlampert blieb am nächsten Tag der Arbeit fern und bemühte sich um den Posten.
Er hatte Glück, allerdings musste er ‚rücken’.

Drei Tage später brachten uns Schlamperts ihre Kinder zur Übernachtung auf dem Sofa und den Stoffballen.
Morgens vier Uhr hatten zwei Arbeitskameraden des Traugott mit diesem gemeinsam das wenige Hab und Gut auf den Fahrdamm gesetzt und so dem Zugriff des Hauseigentümers entzogen.
Gerade als der mit kargem Hausrat beladene Kohlen-Plattenwagen durch Menschenkräfte bewegt, der sicheren Unterkunft zustrebte, kam der Hauseigentümer, um mit grimmen Gesicht den Schaden festzustellen.....
Die Kinder waren schon munter, als sie von der Mutter nachgeholt wurden. Wir aber freuten uns, der in Not geratenen Familie mit nichts geholfen zu haben.

Traugott Schlampert fand einige Zeit später Gelegenheit, seinen Dank abzustatten.....

* * * * * * * * * * *


Treu und brav hatten Bertchen und ich gescharwerkt, um uns über Wasser halten zu können. Einige Privatkunden hatten sich eingefunden, dafür war aber die ‚Stille Zeit’ in der Konfektionsbranche eingetreten.
Ein Versicherungsagent war der erste Kunde, Er ließ sich vollkommen neu einkleiden, dafür übertrug ich ihm zwei Lebensversicherungen für meine Frau und mich. Nach zwei Monaten hatte er außer den Prämienzahlungen von acht Mark, die er für mich geleistet haben wollte, nichts bezahlt. Am dritten Fälligkeitstage stellte sich ein neuer Kassierer ein, der auch die beiden Quittungen für die ersten zwei Monate nochmals kassierte. Weitere Zahlungsausfälle gleichfalls als ‚sicher’ geltender ‚unsicherer Kantonisten’ brachten uns in eine üble Lage, die sich noch verschlechterte, als nach zehnmonatlicher Ehe der ‚Stammhalter’ Berthold eintraf.
Nichts wurde uns nun geschenkt, was die prekäre Lebenslage abgeschwächt hätte. Fast zwei Jahre hatten wir uns auf schwere Art durchs Leben gekämpft, als die ersten ernsteren Zahlungsaufforderungen einliefen.

Die Einkünfte reichten kaum noch zum bescheidensten Lebensunterhalt, geschweige denn zum Ausgleich eingegangener Verpflichtungen.
Auf dem Gesamteinkaufsbetrage von fünfhundertvierzig Mark lastete noch eine Restschuld von 50 Mark. Mit den Ratenzahlungen waren wir bereits über drei Monate im Rückstand. Die unabwendbare Katastrophe nahm ihren Anfang.
Der befürchtete Einschreibebrief auf Herausgabe der Sachen, die ja vertragsmäßig bis zur restlosen Bezahlung Eigentum des Lieferanten bleiben, traf unter Androhung der Klage ein.
Folgender Wortlaut, der die Rechtslage unzweifelhaft kennzeichnete, uns jedoch als größtes Unrecht erschien, stürzte uns in Angst und Sorge:

 „Sie sind Ihren Zahlungsverpflichtungen laut Kaufvertrag Paragraph 5 nicht nachgekommen. Da Sie bereits über drei Monate im Zahlungsverzuge sind, auch unsere Mahnungen erfolglos blieben, machen wir hiermit unser Eigentumsrecht laut Vertragsbestimmung geltend und lassen die Sachen am 15. Juli dieses Jahres, vormittags 7 Uhr wieder abholen. Die vertragsmäßig vorgeschriebene Schlussrechnung lassen wir hierunter zu Ihrer Kenntnis folgen:

  Für Antransport der Möbel 25,oo Mark
  Für Leihgebühr für 22 Monate à 10,- Mark 220,oo Mark
  Für Unterschiedsbetrag des Wertes zwischen Alt und Neu (Paragraph 6) lt. Abschätzung 50 % des Neuwertes 270,oo Mark
  Für Rücktransport zur Verkaufsstelle 25,oo Mark
  Für Mahn- und Schreibgebühren 5,oo Mark
  Zusammen 545,oo Mark
  Hiergegen Anrechnung der bisher geleisteten Zahlungen 495,oo Mark
  Mithin bleiben noch zu zahlen 50,oo Mark

Dieser Betrag von fünfzig Mark wird mit dem Abtransport der Möbel fällig.

Wir machen Sie darauf aufmerksam, dass wir bei Verweigerung der Herausgabe unseres Eigentums gezwungen sind, den Klageweg auf Ihre Kosten zu beschreiten.
Hochachtungsvoll
Schwarz, Elend & Co. G.m.B.H.“

‚Wer nie seinBrot mit Tränen aß ,
wer nie in kummervollen Nächten
auf seinem Bette weinend saß,
der kennt Euch nicht –
ihr ‚himmlischen’ Mächte!’

So hatte einst eine Königin gesprochen.
Erst lange Zeit später lernten wir den tiefen Sinn dieses Ausspruches an uns selbst kennen.
Nach Verweigerung der Herausgabe ‚unseres’ Hausrates bekamen wir die gerichtliche Vorladung: ‚In Sachen S.E. und Co. G.m.b.H. gegen Berthold Jetschke und Ehefrau’ zugestellt -. Der Jammer war groß.
An einem Sonnabend nahm ich die letzte Mark vom Wirtschaftsgeld, um in einem Anwaltsbüro Auskunft zu erbitten.
„An der Rechtslage ist nichts zu deuteln“, erklärte der Rechtsanwalt, „Sie lassen den Termin herankommen, um Zeit u gewinnen und verpflichten sich, unter Klarlegung Ihrer Notlage, dem Gericht und dem Kläger gegenüber zur restlosen Vertragserfüllung innerhalb vier Wochen. Dazu stellen Sie einen Antrag, dem Urteil, das auf Antrag des Klägers gefällt werden muss, erst nach etwaiger Nichterfüllung des Vertrages innerhalb des von Ihnen befristeten Zeitpunktes, Rechtskraft zu erteilen. Das Gericht kann und wird auch, nach den bisherigen Gepflogenheiten, Ihrem Antrage gemäß entscheiden. Sollten Sie den Zahlungstermin nicht einhalten können, dann ist das Urteil sofort rechtskräftig. Nun fassen Sie Mut, es wird schon alles gut werden.!“

Zu zahlen brauchte ich für die Auskunft nichts, meine bangende Berta konnte noch ‚Einkäufe’ vornehmen. Für die eine Mark erhielten wir seinerzeit noch ein Brot, ein Pfund Mehl, 1 Liter Magermilch, ein halbes Pfund Margarine und 200 Gramm Gehacktes; also notfalls für zwei Tage Lebensmittel für zwei Erwachsene und ein Kind.
Not ist der beste Lehrmeister für die Bescheidenheit!

Neue Hoffnung beseelte uns. Vier Wochen wollten wir darben, nur, um unser Heim erhalten zu können, das wir mit so großer Mühe und Ausdauer gegründet hatten.  
Acht Tage später war die Miete für zwei Monate fällig, das waren 46 Mark und die Lebensversicherung für dieselbe Zeit mit acht Mark, zusammen 54 Mark.
Fünfzehn Mark waren erst für die Miete zurückgelegt; für Essen und Trinken war kein Pfennig mehr vorhanden.

Trockenes Brot, Mehlsuppe, Kartoffelsuppe, Kartoffeln mit Heringstunke und wenn es viel wurde, Kartoffelpuffer in Fassfett gebacken, waren unsere spärliche Nahrung. Für den Stammhalter wurde täglich ein Liter Magermilch für 6 Pfennige besorgt. Wie schnell vergeht doch die Zeit, wenn Unheil in Aussicht steht.
Die Woche war herum, acht Mark verdienst und verzehrt. Vierundfünfzig Mark Verpflichtungen waren fällig. Wir rechneten bereits aus, wann wir am Ende angelangt sein würden.

Verzweiflung bemächtigte sich unser, wenn wir unsere abgemagerten Gesichter und die kümmerliche Entwicklung unseres herzenslieben ‚Holdi’ beobachten mussten. Stolz, dümmer als er gar nicht gedacht werden kann, ließ uns von einer Benachrichtigung unserer nächsten Angehörigen Abstand nehmen. Gleich einem Ertrinkenden ergriffen wir den letzten Strohhalm, um uns über Wasser zu halten.
Das Sinnbild der Treue, die Eheringe und was sonst noch beleihbar erschien, mussten zum Versatzamt (Pfandleihe) wandern. Meinem treuen Weibe war dieser Weg unmöglich, ich selbst musste ihn beschreiten.
Fünfundzwanzig Mark, statt der erhofften fünfzig, waren der Erlös – was sollten wir beginnen?

Hunger von früh bis spät, den ganzen Tag auf dem Wege nach Arbeit und keine Aussicht darauf, so konnte das nicht weitergehen.
Inzwischen war auch die Verhandlung wegen Herausgabe des auf Abzahlung gekauften Hausrates nach der Voraussage des Rechtsanwaltes entschieden worden. Unaufhaltsam rann die Zeit.

Vierzehn Tage waren nur noch bis zur Fälligkeit der ausgeklagten Verbindlichkeiten – keine Aussicht auf Rettung in höchster Not.
Der Stolz war gebrochen, ich musste mich meinen Angehörigen anvertrauen, sollte die Familie nicht untergehen. Den Eltern in ihrem beschaulichen Dasein diese Sorge aufbürden? Das wollten wir nicht. Also offenbarte ich mich den in auskömmlichen Verhältnissen lebenden ältesten Bruder Max. Zu gleicher Zeit war auch ein Brief an den zweiten Bruder Ernst fällig, in dem ich von meiner Notlage jedoch nichts erwähnte. In der Aufregung verwechselte ich die Briefumschläge. Beide Briefe kamen an die falsche Adresse.
Bruder Max erhielt den Brief an Bruder Ernst und umgekehrt. Beide tauschten sich die Briefe aus.
So kam Max auf Umwegen doch in den Besitz des ihm zugedachten Briefes, nur, dass Ernst ebenfalls Kenntnis von dem mir drohenden Unheil erhielt.
Acht Tage vor dem gefürchteten Zahlungstermin traf Bruder Max ein, mit ihm die Rettung aus größter Not. Sein erster Weg war zur Firma Schwarz, Elend & Co GmbH und einigen anderen Firmen, bei denen er die von mir eingegangenen Verpflichtungen erledigte. Nach einigen Stunden hatte ich die Quittungen in den Händen und konnte, von der größten Sorge befreit, beruhigt aufatmen. Dann hatte der Bruder angeblich noch persönliche Besorgungen in Berlin auszuführen und nahm meine tapfere Frau wegen deren Ortskundigkeit mit.

Nach kaum einer halben Stunde kamen beide schwer beladen mit allen nur erdenklichen Lebensmitteln, die uns dem Genusse nach schon längst entfremdet waren, zurück.
Fleisch, Wurst, Speck, Schinken, Butter, Schmalz, Käse, Eier, Kakao, Kaffee, Zucker, kurz alles, was beim Kaufmann zu verhandeln war. Auch unser herzenslieber Holdi wurde mit allerlei bedacht. Das waren meines lieben Bruders ‚persönliche Besorgungen’.
Schnell wurde ein, wenn auch bescheidenes, so doch köstlich mundendes Essen zubereitet. Unsere Empfindungen für die Befreiung aus größter Not mit Worten zu beschreiben, ist uns nicht möglich.
„Nun sagt mir einmal ehrlich, wo Ihr noch Schulden zu bezahlen habt“, fragte Max, „wenn ich einmal dabei bin ist es besser, wir machen reinen Tisch.“
Berta und ich sahen uns fragend an, nein, wir hatten keine Schulden mehr außer der großen Schuld gegen den hilfsbereiten Bruder.
„Ich habe Eure Hände schon lange betrachtet, wo sind denn Eure Trauringe -?“
Daran hatten wir in unserer freudigen Aufregung gar nicht gedacht, auch nicht an die Mietsschuld. Das war uns unangenehm.
Der Bruder nahm die Pfandscheine und das Mietsbuch und befreite uns auch von dieser Sorge.

Eine Schuldenlast von zweihundert Mark für die kommenden Tage wurde uns von den Schultern genommen. Fünzig Mark für die kommenden Tage wurden uns noch in die Hand gedrückt.
 „Wenn es Euch möglich ist, zahlt uns das Geld so zurück, wie Ihr es ohne Sorge entbehren könnt, wenn nicht, dann bekommen unsere Kinder später eben etwas weniger als ihnen sonst zufallen würde.“ Dass wir diese echt brüderliche Handlungsweise nie vergessen können, bedarf keiner besonderen Erwähnung.

Drei Jahre lang haben wir für die Abtragung der Ehrenschuld benötigt, und jede Rückzahlung war für uns eine Freude und Erleichterung.
Als der Bruder abgereist war, traf noch ein größerer Geldbetrag von Bruder Ernst ein; auch er wollte uns hilfsbereit unter die Arme greifen. Wir ließen den Betrag mit herzlichen Dank zurückgehen, um uns nicht irgendwie verleihen zu lasen.

Wie es nun einmal so ist, die Eltern erfuhren einige Wochen später doch von dem Geschehenen und sandten uns eine mittlere Bahnkiste mit allen erdenklichen ‚Futtermitteln’.
So wurde die erste und gefährliche Klippe, die sich unserem Eheschiff gefahrdrohend entgegenstellte, doch noch glücklich umsegelt.

* * * * * * * * * * *


Durch die gute Wendung des Schicksals waren unsere Sorgen nicht behoben, die Schulden nicht geringer und das Einkommen nicht größer geworden. Wohl aber war der Pflichtenkreis gewachsen. Das uns so selbstlos entgegengebrachte Vertrauen durfte unter keinen Umständen enttäuscht werden.
Wir sorgten, arbeiteten und bangten von neuem, das Notgeld von fünfzig Mark wurde vorsorglich beiseite gelegt.
Vor Räumung der Lager und Eingang neuer Aufträge aus dem Ausland gelangten keine Arbeiten zur Ausgabe an die Zwischenmeister.
Die Maßschneiderei war alles andere als lohnend gewesen. Wer Geld hatte, rauchte sich nicht vier Treppen hoch zu einem unbekannten Meister zu bemühen. Geschäftskunden besaß ich nicht, da wir unsere bescheidenen Einkäufe ‚billigkeitshalber’ bei den Straßenhändlern vornahmen. ‚Gute Bekannte’ hatten uns bisher nur das Geld aus den Taschen gezogen. Teilweise hatten wir außer dem Verlust des Arbeitslohnes auch noch die Auslagen für Stoffe und Zutaten eingebüßt.
So kam ich auf den Gedanken, die Schneiderei ‚an den Nagel zu hängen’, um in einer Fabrik als ungelernter Arbeiter bei bescheidenem, aber sicherem Einkommen ein neues, hoffentlich sorgloseres Leben zu beginnen.

Damit war meine treusorgende Berta nicht einverstanden.
„Lieber will ich versuchen, bei einem Zwischenmeister auf Damenmäntel Arbeit zu finden, wobei Du mir ja behilflich sein kannst, als dass ich die Aufgabe Deiner Selbständigkeit zugebe. Wir werden schon über die stille Zeit hinwegkommen.“
Dabei blieb es denn auch. Mit den nötigen Ausweispapieren versehen holte sie sich von einem Zwischenmeister einen Probemantel, der am nächsten Tag geliefert werden musste. Wir setzten uns beide daran und hatten Mühe, die Arbeit zur Zeit abzuliefern.

Für einfache Mäntel gab es 90 Pfennige bis 1,10 Mark Stücklohn. Eine Mark war also verdient. Auf zwei Mäntel pro Tag mussten wir kommen, wenn wir wenigsten den dringenden Lebensunterhalt schaffen wollten.
In der ersten Woche brachten wir es auf neun Mäntel, dabei hatten wir vom frühen Morgen bis zum späten Abend gearbeitet. Nebenbei musste ja auch der Kleine gewartet, Kinderwäsche gewaschen, Essen gekocht, eingekauft und abgeliefert werden.
Sechs Mark pro Woche mussten für Miete, Licht und Heizung zurückgelegt werden, es verblieben uns für die erste Woche mithin nur drei Mark für den Lebensunterhalt.
Nach einigen Wochen schafften wir bei zwölf bis vierzehn Stunden Arbeitszeit einschließlich Sonntag, vierzehn Mäntel.


Das Unglück wollte, dass erst unser Holdi, dann auch ich erkrankten, einer Krankenkasse gehörte ich nicht an. Trotz Krankenpflege und Hausarbeit schaffte meine Berta noch vier Mäntel in dieser Woche. 3.60 Mark waren verdient; wollte denn das Elend gar nicht aufhören?
Zum Glück bekamen wir achtundvierzig Mark für die aufgegebene Lebensversicherung zurückbezahlt; bei den furchtbaren Verhältnissen allerdings auch nur ein Tropfen auf einen heißen Stein.
Unsere einzige Freude war unser lieber kleiner Sohn, ihn bei dieser furchtbaren Ernährunslage gesund zu erhalten, war unsere größte Sorge und Pflicht zugleich, wie sollte er sonst eine etwaige ernstere Krankheit überstehen?
Es dauerte nicht lange, die Notgroschen mussten trotz Fleiß, Ausdauer und größter Sparsamkeit angegriffen werden.

Bald kam eine Zeit, in der auch nicht die geringsten Lebensmittelvorräte vorhanden waren. Weder beim Bäcker, Fleischer noch beim Kaufmann hatten wir Schulden gemacht, dazu fehlte uns der Mut vollkommen.
Zwei der schwersten Tage lagen hinter uns. Zwei Tage, an denen weder meine Berta noch ich auch nur das Geringste zu essen hatten. Unserem Sohn hatten wir in diesen beiden Tagen drei trockene Brötchen, in etwas verwässerter Milch aufgeweicht, reichen können. Am dritten Tage standen wir hungernd und frierend geschwächt von unserem Lager auf.

Holdi erwachte und weinte – Hunger! Wir sahen uns gegenseitig an, weinten ebenfalls heiße Tränen, die fast das Herz abdrücken wollten und umarmten uns wortlos, einer beim anderen Schutz und Hilfe suchend, die es doch nicht zu geben schien. Wir waren beide noch so jung und hingen so sehr am Leben und trotzdem konnte ich in dieser furchtbaren Stunde begreifen: ‚Der Tod kann ein ersehnter Erlöser sein-!’

Fort mit solchen feigen Gedanken; ich trug doch die Schuld an all dem Elend, ich hatte doch in innigen Liebesstunden meiner Berta Versprechungen über Versprechungen gemacht, ich endlich musste doch den Weg aus der Verzweiflung hinausfinden und niemand anderes.

Langsam und herzlich löste ich mich aus der verzweifelten Umarmung.
 „Ich schaffe Hilfe, meine liebe Frau, in zehn Minuten bin ich zurück.“
Der Weg führte mich zu unserem Grünkramhändler, bei dem wir sonst alles einzukaufen pflegten. Gedrückt stellte ich ihm unsere ganze Notlage vor und beschönigte nichts.
„Können Sie mir auf Vertrauen auf etwa eine Woche Lebensmittel borgen? Noch weiß ich nicht, von was ich die Schulden bezahlen könnte; ich werde heute Arbeit in einer Fabrik suchen.“
„Herr Jetschke, meine Frau und ich haben Ihnen schon längst Ihre Sorgen angemerkt, warum kamen Sie nicht schon früher? Wenn ich niemanden helfen würde – ich habe auf diese Weise schon vieles eingebüßt – Ihnen helfe ich sofort und gerne.“
Meine Freude über das ausgesprochene Vertrauen war fast größer als über die zugesagte Hilfe; ich fasste wieder Mut und Vertrauen zu mir selbst.

Bepackt mit den nötigsten Lebensmitteln, wobei mi der Kaufmannmehr einpackte als ich erbat, kam ich daheim an.
Leider gelingt es nur selten, überraschend freudige Ereignisse im Bild festzuhalten, nur gut, dass das Gedächtnis uns ein geistiges Wiedererlebe zu vermitteln vermag.
 „Wuscht, Wuscht – Däs, Däs (Käse)“ streckte unter Freudentränen bittend das kleine Kerlchen seine kraftlosen Ärmchen aus.

Zuerst fielen wir über das Brot her. Während ein kräftiges Süppchen für den Jungen brodelte, ‚verschlangen’ wir gierig das trockene Brot. Zeit zum Bestreichen oder Belegen des trockenen Brotes ließ uns der Hunger nicht. Ein halbes Brot haben wir zwei auf einmal verzehrt.
Nachdem wir einigermaßen gesättigt waren, erzählte ich ‚Muttern’ von dem Vertrauen des Kaufmanns und seiner Hilfsbereitschaft.
Schwere Sorgen um das tägliche Brot waren wieder einmal, wenn auch voraussichtlich nur auf kürzeste Zeit überstanden. Mit dem heutigen Tage sollte und musste es anders werden.
 „Ich gehe nach den B.E.M Werken, Arbeit suchen“, sagte ich bestimmt zu meiner Frau, „da verdiene ich in einer Woche mehr als wir beide bei der Näherei zusammen, brauche nur täglich neun Stunden zu arbeiten und habe jeden Sonntag frei. Wir können dann mit dem Jungen oft spazieren gehen und uns im Humboldthain wieder etwas erholen.“

 „Lieber Berthold“, antwortete meine Frau, „muss denn das sein? Ich möchte doch so gern, dass Du Deine Selbständigkeit behältst.“
„Die Pflicht gegen Euch geht über alles, lass mich nur handeln, zaudern und abwarten kann nur Verderben bringen!“
Bereits eine halbe Stunde später stand ich vor dem ‚vielvermögenden’ Pförtner der B.E.M. Werke und bat um Vorlassung im Personalbüro.
 „Sehen Sie einmal da vorn die schwarze Tafel, an der Sie vorbeigedöst sind, wenn da nichts drannsteht, werden auch keine Arbeiter eingestellt. Was haben Sie denn für einen Beruf?“
„Ich bin selbständiger Schneiderund habe in letzter Zeit mit meiner Familie viel hungern müssen; die Miete für den vergangenen und diesen Monat habe ich auch noch nicht bezahlt. Wenn ich Sie recht herzlich bitte, können Sie mir nicht Nachricht geben, falls wieder Arbeiter eingestellt werden?!“

„Junger Mann, für schwere Arbeit kommen Sie doch gar nicht in Frage, - na warten Sie mal!“
 Den Hörer am Ohr spricht er mit der Personalstelle: „Anständiger Junge -, verheiratet – Familie – sehr im Druck -. Wenn mal was ist, für leichte Arbeit sicher gut verwendbar, - wie? Vorlassen? Jawohl Herr Müller, wird gemacht!“
Der Hörer wird angehängt. „So, nun gehen Sie nach dem ersten Quergebäude, parterre links und melden sich beim Herrn Prokuristen Müller.“

Ich knalle die Hacken zusammen, wie wenn ich Soldat gewesen wäre, „vielen Dank, Herr Pförtner!“ Schnell eile ich der Personalstelle zu.
Nach einer Viertelstunde verließ ich die B.E.M. Werke als Lagerarbeiter des Porzellankellers mit einem festen Wochenlohn von 18 Mark bei neunstündiger Arbeitszeit, jeden Sonntag frei für meinen lieben Kleinen und die ‚Mutti’.
So tiefbeglückt habe ich Mutter und Sohn selten abgedrückt, wie an diesem Tage. Der Grünkramhändler wurde verständigt und freute sich ehrlich über unser Glück. Bis um späten Abend bauten wir Luftschlösser. Einige Wochen waren vergangen als ich, zufrieden wie immer, von der Arbeit nach Hause kam. Ein angenehmer Duft nach Buletten und Rotkohl – mitten in der Woche – kam mir entgegen; lief ordentlich das Wasser im Munde zusammen. „Mädel“, rief ich meine Berta an. „Du hast wohl in der Lotterie gewonnen?“
„Wenn auch das nicht, aber vielleicht haben wir beide Glück, erst lass mir schnell das Essen zurechtmachen!“
„Was wird denn da bloß herauskommen, Erbschaft aus Amerika oder so etwas ähnliches?“
Das Essen war aufgetragen und während wir es uns schmecken ließen, berichtete meine Frau ganz aufgeregt: “In der heutigen Zeitung wird für sofort ein junges Ehepaar gegen freie Wohnung zur Übernahme der Hausreinigung gesucht. Ich habe mich sofort gemeldet, wir können die Stelle bekommen. Das Haus ist in der Nähe des B.M.E. Werkes und hat zwei mit Linoleum ausgelegte Aufgänge. Die Wohnung besteht aus einer großen Berliner Stube, einer geräumigen Küche und Korridor. Wollen wir es nicht für zwei Jahre versuchen? Dann sind wir schuldenfrei und kommen vielleicht doch noch auf einen grünen Zweig.“

„Schön wäre das schon mein, Schatz, nur hast Du die Rechnung ohne die Wirtin gemacht. Die Eigentümerin lässt uns doch die Möbel nicht herausnehmen, bevor wir die Miete bezahlt haben. Dann müssen wir laut Vertrag auch noch ein Vierteljahr Miete im voraus zahlen, falls wir vor Ablauf der Zeit ziehen wollen. Ohne Möbel können wir auch nirgends zuziehen.“

Der Gedanke an die Aussicht auf ein sorgenfreies Leben wollte uns nicht loslassen. War denn gar keine Möglichkeit vorhanden?
Hin und her besprachen wir die Angelegenheit. Das Schlimme war, dass die Stelle sofort zu besetzen war.

Endlich schien ein Ausweg gefunden zu sein. Bis zum nächsten ersten wollte Berta täglich zur L..straße gehen und die Aufgänge sauber halte, das waren vierzehn Tage. Wenn Sie vierzehn Mal irgend welchen Hausrat mitnahm, blieb außer den Möbeln nur noch wenig für einen Umzug übrig. Am 30. November morgens fünf Uhr mussten wir dann ‚Rücken’ (vor Vertragserfüllung heimlich ziehen). Wir konnten unseren Verpflichtungen später dann doch noch ehrlich nachkommen, vorläufig würden wir einen Säulenspiegel mit Untersatz unser einziges Schmuckstück – zurücklassen. Das war nicht so ängstlich, die Eigentümerin wohnte ja im Nebenhaus, das ihr auch noch gehörte.

Also beschlossen wir.
Unser ehemaliger Nachbar Traugott Schlampert kam uns in den Sinn. Bei einem früheren Besuch hatten wir uns überzeugt, dass sie sich wirtschaftlich sehr erholt hatten, vielleicht konnten sie uns mit gutem Rate beistehen. Also machten wir Ihnen einen Besuch.
Schlamperts empfingen uns recht herzlich. Sie hörten sich unseren Kummer an, erzählten viel von ihrem bisherigen Ergehen und boten sich sofort freiwillig zur tatkräftigen Hilfe an. Am 30. November früh fünf Uhr wollte sich Traugott mit zwei Helfern vor meiner Haustür einfinden und erfolgreich ‚rücken’ helfen. Den Wagen dazu musste ich vom Kohlenhändler besorgen.
Obwohl wir erst den 29. November schrieben, herrschte schon seit einigen Tagen trockene Kälte.

Es war Sonnabend – ein Tag vor dem ‚Rücken’ – als ich gegen fünf Uhr nachmittags nach Hause kam. Eine würzige Kartoffelsuppe mit einem Paar delikater Brühwürstchen sollte mich für die bevorstehende schwere Arbeit stärken. Klein Holdi musste auf meinen Schoß; ein Kosthappen fiel ja stets für ihn ab, sonst hätte es mir nicht geschmeckt. Wie zufrieden waren wir trotz dürftiger Verhältnisse gegen die vergangenen drei Jahre.

 Die Mahlzeit war beendet. Hurtig wurden die wenigen noch vorhandenen Sachen gesäubert, verpackt und griffbereit zurecht gestellt. Für unseren kleinen Strolch bedeutete das Durcheinander einen richtigen Freudentag. Er musste der Mutti und de Vati ‚tüchtig helfen’. Das Jauchzen nahm kein Ende – unschuldige Kinderseele.

Endlich war alles soweit, wir konnten uns niederlegen. Am Sonntag früh vier Uhr war für meine Berta und für mich die Nacht zu Ende. Wir mussten ja noch die Betten auseinander nehmen und an bestimmten nur ‚Kleinlebewesen’ zugängigen Stellen vorsichtshalber mit Petroleum ausspritzen. Die Federbetten sollten in einem sehr großen Reisekorb verstaut werden. Was so die sonstige Morgenarbeit ist, musste Erledigung finden.

Pünktlich schlug der Wecker kurz an. Auf Filzpantoffeln und unter Flüstersprache gingen die letzten Arbeiten vor sich. Sorglos schlief unser Herzensjunge, im warmen Ofenwinkel auf der Erde verpackt, den Schlaf des Gerechten.
 Kurz vor fünf Uhr war alles vorbereitet. Mit dem Hausschlüssel bewaffnet schlich ich mit starkem Herzklopfen die vier Treppen herunter und öffnete vorsichtig den Toreingang.
Ich konnte meinen Augen kaum trauen, Schneeflocken durchwirbelten gegen den Laternenschein fast undurchsichtig die Luft und bedeckten die Straße mit ihrem reinen Weiß. Um die Straßenecke bog Traugott Schlampert mit deinen Helfern, jetzt erst konnte ich etwas erleichtert aufatmen.

Ohne viel Geräusch und Worte wurde der gesamte griffbereit gestellte Hausrat bis auf einen Säulenspiegel mit Untersatz – dem einzig wertvollen und ‚entbehrlichen Möbelstück’ – bei Petroleum- und Kerzenbeleuchtung die vier Treppen herunter geschafft und im größten Schneegestöber auf den Fahrdamm gestellt.
Als letztes Stück kam der Riesenreisekorb mit starken Holzlatten unter dem Bodengeflecht, der die Federbetten und Küchengeschirr enthielt, an die Reihe. Traugott und ich setzten auf dem schrägen Bürgersteig kurz ab, der Reisekorb schien Verstand zu haben. Durch seine Last, die befestigten Bodenleisten und den fast zehn Zentimeter hohen Schnee rutschte er selbständig nach dem Fahrdamm zu – ein unbezahlbarer Fingerzeig, wie sich bald zeigen sollte.
Traugott Schlampert blieb mit einem Helfer zum Schutz der Möbel auf dem Fahrdamm, während der zweite Helfer mit mir den Plattenwagen vom Kohlenhändler holte. Bald war der Wagen gefährlich anmutend beladen, die reinste Porzellanfuhre.

 „Mein lieber Schlampert, das können wir nicht riskieren, der Wagen kippt uns um, wir müssen zwei mal fahren“, sagte ich zu Freund Schlampert. Da kam mir auch schon der rettende Gedanke: „Den großen Reisekorb mit den Holzleisten nehmen wir runter, er ist uns vorhin vom Bürgersteig abgerutscht. Wir machen einen Strick daran und meine Frau fährt damit Schlitten bis zu L...straße, damit ist uns sehr geholfen.“
Der Gedanke wurde ausgeführt, die Sachen zum Teil wieder abgeladen.

Ein Versuch, den großen, schweren Korb mit Hilfe eines Strickes auf dem Schnee fortzubewegen, gelang glänzend. Wir legten noch einen Tisch verkehrt darauf, in diesen noch vier Stühle und andere Kleinigkeiten. Ungeahnt standen uns zwei Transportmittel zur Verfügung, bestimmt haben wir in diesem Jahre das erste Berliner Schlittenfuhrwerk auf die Beine oder viel mehr auf die Kufen gebracht.

Die Fahrt ging los. Traugott mit seinen Helfern übernahm den Plattenwagen, meine Frau mit mir den ‚Korbschlitten’.
Geräuschlos zog der Korbschlitten seine Bahn und erregte bei so manchem Frühaufsteher Heiterkeit. Auch die bekannten Berliner schnoddrigen Zurufe der durch das erste Schneetreiben freudig gestimmten Passanten, die die ‚Rück’-Fuhren wohl erkennen mochten, blieben nicht aus.

Um 9 Uhr stand, bis auf den als Pfand in der alten Wohnung verbliebenen Pfeilerspiegel nebst Untersatz, in der neuen Wohnung alles an Ort und Stelle. Auch unseren Stammhalter hatte Muttchen nachgeholt.
Ein kräftiges und nachhaltiges Frühstück nebst Bier und einigen ‚Klubschen’ (größeres Glas Branntwein) sowie zwei Mark Trinkgeld für jeden Helfer waren die gesamten Umzugskosten. Traugott Schlampert lehnte für sich jedes Trinkgeld ab.
Um elf Uhr vormittags sprach ich bei der Eigentümerin, Frau Stolpmann, die bereits von meinem Umzug unterrichtet worden war, vor und erklärte ihr die ganze Sachlage. Den zurückgelassenen Säulenspiegel versprach ich, baldmöglichst gegen die noch schuldige Miete einzulösen.

Frau Stolpmann war sehr verstimmt und ungehalten, versprach aber auf höfliches Bitten dennoch, die Wohnung nach Möglichkeit sofort zu vermieten, obwohl ich das – nicht verdient und eigentlich noch ein Vierteljahr nachzuzahlen habe.
Zu Hause angelangt freute sich meine Berta über den glücklichen Verlauf des gewagten Unternehmens. Wir fühlten uns glücklich wie selten zuvor, ich gewann meinen alten Humor wieder.

Räumlich sagte und die neue Wohnung zu, sie hatte nur den einen Fehler, dass wir in den ersten Wochen die Bettstellen in mit Wasser gefüllte Konservenbüchsen stellen mussten, um die in Regimentsstärke auftretenden Plagegeister von ns abwehren zu können. Wir hatten ja schon Erfahrungen in der Bekämpfung dieser Haustierchen und konnten uns ihrer wiederum durch Ausdauer, reichlich Insektenpulver, Ausräucherung und vollständige Renovierung der Wohnung fast restlos entledigen.

Mag der Ausspruch ‚Ungeziefer bedeutet Glück’ auch noch so unzuverlässig sein, für uns war er zutreffend. Der Höhepunkt der mir vom Schicksal auferlegten Sorgenlasten war überschritten. Ein sonniges Leben, nur wenig vom Unwetter getrübt, nahm seinen Anfang. Mir aber und den Meinen sollte der bisherige schwere Lebenskampf sowie alle überstandenen Sorgen, Nöte und Mühen Lehrmeister für unser künftiges Leben sein.
Noch heute danke ich dem Schicksal, dass es mir diesen schweren Lebensweg vorschrieb. Wie hätte ich sonst wohl mein späteres Glück in seiner ganzen Größe und Tiefe empfinden können.
Ein Jahr schon hatten wir uns in dem Bestreben, ein menschenwürdiges Dasein zu schaffen, in unserem neuen Heim eingelebt.

Dem kleinen Berthold hatte sich ein Schwesterlein Charlotte zugesellt. Wir waren nach all den durchlebten Erfahrungen und Bitternissen mehr als bescheiden geworden und fühlten uns glücklich und geborgen.

Das Sauberhalten der Hausaufgänge, die Sorge für das tägliche Leben, die Wartung der kleinen Trabanten und was sonst noch alles auf meiner Eheliebsten lastete, waren ihr zu unentbehrlichen Bedürfnissen geworden.
Auch mir zeigte sich das Leben, durch die geregelte Tätigkeit als Fabrikarbeiter im angenehmeren Lichte. Kleinere Nebenverdienste verbesserten unsere Lebenslage merklich. Bald waren wir den oft sehr drückenden ‚Kinderschuhe der Ehe’ entwachsen. Die Pflege unseres Nachwuchses wurde uns durch die Verhältnisse sehr erleichtert.

Der kleine Hof und das Gärtchen, ringsum von hohen Mauern und Hinterhausfronten ‚Berliner Mietskasernen’ umgeben, erhielten wenig Sonne, trotzdem waren en Holunder- und einige Ziersträuche vorhanden, auch sorgte Graswuchs für ein gartenähnliches Aussehen.
Unseren Kindern war das zu unserer Pförtnerwohnung gehörende, verschlossene Gärtchen zu einem förmlichen ‚Eldorado’ geworden. Die Büsche diensten als Versteck, dicke Decken, auf dem Rasen ausgebreitet, verlockten zu allerlei Kapriolen.
 Wie sehsüchtig drückte sich da an den Fensterscheiben der Hinterwohnungen so manches Kindernäschen breit, in dem Verlangen, mit unseren kleinen lieben Strolchen im Garten so recht ungebunden spielen zu dürfen.
Das Geschwisterpärchen war so drollig, lieb und artig, dass es auch die Aufmerksamkeit anderer Mitbewohner auf sich zog. Wie oft flogen ihnen aus den geöffneten Fenstern zärtliche Worte oder gar Näschereien zu; wir waren stolz auf unsere Kleinen, wie Eltern das nur sein können.

Zwei zu einem Kaufladen gehörende Parterrefenster hatten es den Kleen besonders angetan. Da kam so manche bunte, leere Schachtel, mit denen es sich so schön bauen ließ, und so mancher Leckerbissen heraus. Es war ganz selbstverständlich, dass wir gleich- oder besser gearteten Kindern die Tür zu diesem bescheidenen Kinderparadies gern öffneten, um sie an den Freuden zu beteiligen.

Ein ‚Hallo’ entstand stets, wenn Holdi und Lottchen spurlos aus dem verschlossenen Garten verschwunden waren. Suchen brauchten wir nicht lange, wir fanden die kleinen Kadetten im Hinterzimmer des Kaufmanns, irgend etwas gutes schnabulierend vor. „Onkel Willi“ hat uns Fenster reindehebt“ rief uns der Junge freudig zu....

Unser Dasein verlief in bester Harmonie und eines Tages waren wir schuldenfrei. Mit Freude und Zufriedenheit hatten wir beim Bruder Max die Restschuld abgetragen, die Dankesschuld würde bestehen bleiben. Da kamen eines Tages ganz unerwartet Wetterwolken auf, die uns ‚vom Glück Verwöhnten’ aus unserer Sorglosigkeit aufscheuchen sollten, - ich wurde arbeitslos.

Im Hause befand sich eine Gastwirtschaft mit einem größerenVereinszimmer. Dem Besitzer, Gastwirt Robert Buchwald, hatte ich mich verschiedentlich behilflich erweisen können und davon men Gutes gehabt. Wenn nichts zu tun war, hatte ich auch manches Mal meine ‚künstlerischen Phantasien’ auf dem Klavier austoben lassen. Dieser und jener der Gäste waren dazu gekommen und hatten in angeheiterter Stimmung meine Spielerei wohl auch für Musik gehalten und ihre Sangeskunst in gleicher ‚Vollendung’ eingestreut. Wenn wirklich Robert Buchwalds Schäferhund zum Gotterbarmen losjaulte, noch ehe ich den Deckel vom Piano hob, bewies das nur die Gelehrigkeit und das Feingefühl dieses Tieres. Noten konnte ich nicht, trotzdem fühlte ich mich als ‚Meister’, wenn kurz vor der Polizeistunde der Gesang zechfreudiger Gäste so wunderbar mit meinem Spiel disharmonierte.

Dieses ‚Klavierspiel’ brachte manchen Nebenverdienst, andererseits machte mich das gespendete Freibier für den ‚Kapellmeister’ etwas leichtlebig. Es kam vor, dass ich außer den ‚Klaviergroschen’ nach Feierabend auch noch Geld beim Karten- und Billardspiel zusetzte.
Natürlich war ich ein gern gesehener Gast in der Buchwald’schen Gastwirtschaft, noch dazu als der Theaterverein ‚Euterpia’ seinen Sitz nach dort verlegte hatte und seine wöchentlich zweimaligen Übungsabende mit einem Fidelitas beschloss.
Während meiner nunmehrigen kurzen Arbeitslosigkeit merkte ich sehr bald, dass diese Nebeneinnahmen als ‚Klavierspieler auf C-Dur mit teilweise richtigen Übergängen’ mehr und mehr eine ‚Nebenausgabe’ wurde. Ich hatte alle Mühe, von diesen Fidelitasabenden loszukommen. Der Zufall kam mir zu Hilfe.
Wieder einmal war Fidelitas des Theatervereins Euterpia. Ich hatte Kopfschmerzen vorgetäuscht und ein Mitwirken als ‚Kapellmeister’ zur Verhütung neuer ‚Nebenausgaben’ während meiner Arbeitslosigkeit abgelehnt.

Da ertönt am späten Abend die Flurklingel. Nichts gutes ahnend öffnet mein beherztes Weib. Vor der Tür steht der ‚Erste Herr Vorsitzende’ und die ‚Erste jugendliche Liebhaberin’ des Theatervereins Euterpia und versuchen auf meine bessere Hälfte einzuwirken, ihre ‚Erlaubnis’ zum freventlichen Spiel zu geben.
 An einer Holzkiste lässt sich nun einmal nichts löten; meine Berta blieb fest und ich mit ihr.
 ‚Schauspieler’ lassen sich so schnell nicht abweisen. Was nichts vermochte, Schmeicheleien wie ’Schöne Frau’ und ‚Sie sind doch noch zu jung zum Vertrauern, kommen Sie mit runter und tanzen Sie mit uns’. „Hier haben Sie gleich drei Mark für den Kapellmeister, damit wir das nicht vergessen“, verfehlten letzten Endes die beabsichtigte Wirkung doch nicht.
Meine bessere Hälfte blieb zwar daheim, ich aber durfte mein Kopfweh beiseite legen und mein ‚letztes Debüt’ als Kapellmeister antreten.

Als ich Tür zum Vereinszimmer der Euterpia kaum eine Hand breit geöffnet hatte, stürmte Harras mit eingeklemmter Rute zwischen meinen Beinen hindurch und riß mich rücksichtslos zu Boden. Ob das wohl etwas zu bedeuten hatte?
Schimpfend und wetternd unter dem gleichzeitigen ‚Hallo’ der Euterpia-Jünger betrat ich das 150 Personen fassende Vereinszimmer und rasselte für drei Mark Tanzmusik runter.
So fidel war es bald bei keinem Fidelitas zugegangen und auch nicht so ausdauernd. Ich wusste schon nicht mehr, was ich noch spielen sollte. Mein Repertoire war nicht groß. Ich hatte alles schon zwei- bis dreimal durchgespielt, da kommt die ‚Erste Liebhaberin’ mit einem Schnäpschen angeschaukelt: „Herr Kapellmeister, bitte spielen Sie doch mal ‚Ich weiß ein einsam Plätzchen auf der Welt’ !“

„Aber Fräulein Felicitas, beim Fidelitas – das ??“ „Hach, wird doch überall als geführvoller Walzer getanzt“.
Ich wusste wirklich nicht, was ich tun sollte, gehört hatte ich es schon oft, fand es aber abstrakt und gefühlsroh. Was half es. Ich degradierte dieses schöne Glaubensbekenntnis an die Eltern zum Walzerlied.
Kaum hatte ich das Stück beendet, trat ein etwas angeheiterter Fremder aus den Gastzimmer an mich heran und sagte: „Herr Kapellmeister, so schön laut spielen wie Sie kann ich zwar nicht, aber ich werde Sie etwas ablösen, Sie werden Ihre Hände auch schon recht spüren.“
Bereitwillig und gern machte ich, nichts Gutes ahnend, Platz; es war bald Feierabend.
 „Ein paar Worte liebe Theaterfreunde“, führte sich mein Ablöser ein, „ich werde mir erlauben, Ihnen ein schönes Gesangsstück mit Selbstbegleitung vorzutragen und bitte um Gehör für den bescheidenen Vortrag.“
Alles wurde still. Ein kurzes getragenes Vorspiel, dann dringt das soeben verschandelte Lied vom Elterngrab ergreifend und mahnend zugleich, von selten volltönender Baritonstimme meisterhaft vorgetragen, unter weicher anschmiegender Klavierbegleitung strafend an unsere Ohren.
Drei Strophen trägt der unbekannte Gast vor; alles lauscht ernst und aufmerksam dem Vortrage dieses zweifellosen Künstlers. Einige gedämpfte Schlussakkorde beschließen das soeben Gehörte.
Nur einzelne Beifallsbezeugungen, von Mitgliedern, die die Situation wohl nicht erfasst hatten, ruhige anerkennende Worte des Beifalles von anderer Seite. Der Vorsitzende dankt dem Vortragenden mit besonderer Wärme; ich selbst fühle mich gezwungen, meinen Dank mit einer besonderen Entschuldigung über die Entwürdigung eines guten Liedes abzustatten.

 „Nun lassen Sie sich Ihr Fidelitas nicht verleiten, Jugend ist nun einmal Jugend, Sie haben wohl alle begriffen, um was es ging.
Sie haben mir gedankt, ich möchte nicht hinter Ihnen stehen.“
Unser Gast ließ noch den Strauß’schen Walzer ‚an der schönen blauen Donau’ erklingen. Der Missakkord des Fidelitas war gedämpft. Die Beteiligten werden diesen Abend nicht vergessen. Nie mehr habe ich ernste Lieder zu ‚Gassenhauern’ degradiert. Mit den Fidelitasabenden musste es für mich sein Bewenden haben, ich hatte ernstere Pflichten zu erfüllen.

Die Sorge der Arbeitslosigkeit drückte die Stimmung erheblich nieder; die Familie zählte ja auch vier Personen, die alle leben wollten.
Gastwirt Robert Buchwald war überall gut bekannt und in der Welt viel herumgekommen. Wenn möglich, musste er mir mit Rat und Tat zur Seite stehen. Ich bemühte mich zu ihm und klagte meine Not und Sorgen.
 „Ja, mein lieber Jetschke, wenn Sie Wert auf eine Lebensstellung legen, versuchen Sie es doch mal bei der Eisenbahn“, machte er mir den Vorschlag. „Es soll da zwar etwas weniger Lohn als in Privatbetrieben gezahlt werden, das wird aber durch die Versorgung für das ganze Leben doppelt und dreifach wieder aufgehoben. Wenn Sie sich dahinter setzen und fleißig arbeiten, können Sie sogar eine Beamtenstellung erreichen. Soweit ich Sie kenne, schaffen Sie das bestimmt. Mein Schwiegervater ist Lademeister bei der Bahn und tauscht mit niemand. Heute Abend kommt er nach hier, erkundigen Sie sich doch einmal bei ihm.“

 Das war schönste Musik für meine Ohren, nur wagte ich nicht daran zu glauben. Zeitlebens die ganze Familie versorgt zu wissen, soviel Glück konnte es für mich ja gar nicht geben.
 „Bester Her Buchwald, schenken Sie auf diesen Rat zwei Korn und zwei Mollen ein, das muß begossen werden.“
 „Das werde ich tun, wenn alles geklappt hat, mein lieber Jetschke, vorläufig nehme ich von Ihnen nichts an.“
 Eiligst begab ich mich zu ‚Muttern’, ihr diesen Vorschlag zu unterbreiten.

„Ja, mein Kleiner, hast Du denn schon zugesehen, wie die Arbeiter auf der Strecke die schweren Schienen und Schwellen schleppen müssen, und mit großen Stopfhämmern den Steinschlag in dauernd gebückter Stellung unter die Schwellen treibe? Ich kann nicht glauben, dass Deine Kräfte das lange mitmachen.“

 „Schwere Arbeit ist auch nur Gewohnheit, und überlege nur einmal – nie wieder arbeitslos, alle Sorgen um die Zukunft mit einem Schlage behoben, vielleicht kann ich bald einmal Türschließer oder gar Beamter werden. Dein Vater ist Chausseewärter und braucht keine Arbeitslosigkeit befürchten, der meine Landessekretär, bald wird er in Pension gehen. Sind das nicht herrliche Aussichten? Mutter und Du habt Euch doch so auf einen ‚Beamten’ versteift. Jetzt, wo diese Möglichkeit vorhanden ist, willst Du mir den Mut nehmen?“

 „Nein, mein lieber Berthold, dass will ich absolut nicht, ich möchte nur Dir und uns jede Enttäuschung ersparen. Die Eisenbahn wartet doch nicht auf Dich. Für Beamtenstellungen sind so viel Militäranwärter und Invaliden vorhanden, da darfst Du nicht falsch rechnen. Freuen würde ich mich sehr und noch mehr stolz sein, wenn Du nur einen kleinen Posten, etwa als Bahnwärter oder Schaffner erhalten könntest.“
 So ging das Für und Wider bis zum Abend.

Ich wollte meinen Vorsatz durchführen, selbst auf die Gefahr hin, später aufgeben zu müssen.
 Robert Buchwalt’s Schwiegervater saß schon im Gastzimmer, als ich dieses betrat.
„Guten Abend, Herr Keller, es ist gut, dass Sie schon hier sind, ich habe etwas auf dem Herzen“, sprach ich ihn an.
„Guten Abend, Herr Jetschke, kommen Sie nur ran an den Tisch, ich habe schon gehört, Sie möchten gern zur Bahn? Wenn Sie als Streckenarbeiter anfangen wollen, müssen Sie sich bei einer Bahnmeisterei bemühen.
Ob zur Zeit Arbeiter eingestellt werden, ist mir nicht bekannt. Sie müssen jedenfalls vollkommen gesund sein, gutes Seh- und Hörvermögen besitzen und sich daraufhin einer ärztlichen Untersuchung unterziehen.“

 „Einen Moment, Herr Keller, mir ist vor Aufregung die Kehle trocken geworden, ich muss erst mal eine Molle trinken. – „So, nun kann’s weitergehen. Gesund bin ich, hören und sehen kann ich auch, diese Schwierigkeiten wären also schon überwunden.“

 „Das denken Sie, Herr Jetschke, der Bahnarzt hat schon manchen ‚gesunden ‚Menschen’ das Gegenteil bewiesen und ihm durch solchen Gegenbeweis einen Strich durch die Rechnung machen müssen. Einem fleißigen Arbeiter stehen aber immer noch allen Beamtenstellen bis zum Bahnhofsvorsteher offen, die nötigen Schulkenntnisse vorausgesetzt. Bei Ihnen scheint’ s daran ja nicht zu fehlen und wenn doch, dann gibt es ja allerlei Schulungs- und Lehrbücher. Das Eine muss ich Ihnen aber sagen, Sie müssen mit Picke, Hacke und Schippe auf der Strecke anfangen, dazu ist Ausdauer und Kraft erforderlich. Sie müssen ja wissen, ob Sie sich das zutrauen können. Also versuchen Sie es, vielleicht haben Sie Glück, ob Sie es aushalten, ist eine andere Frage.

Diese Auskunft war den damaligen Verhältnissen klipp und klar, für mich war es etwas zu viel auf einmal. De immer wieder auftauchenden Zweifel an meiner Ausdauer machten mich zwar missgestimmt, aber nicht mutlos. In dieser Zweifelsstimmung kam ich daheim an.

 „Liebe Berta, der Traum ist zwar noch nicht aus, nur begegne ich in Bezug auf meine Ausdauer durchweg Zweiflern, leider gehörst Du auch dazu. Trotzdem, ich gebe das Rennen nicht auf. Ich glaube an mich und werde den Kampf aufnehmen, kämpfe ich doch für Euch. Es ist möglich, dass ich morgen zum Arzt muss, lege mir bitte Wäsche zurecht, ich werde mich sofort einer Geralreinigung unterziehen."
Eine unruhige Nacht folgte.

Schwere Gewitter rissen mich wiederholt aus dem Schlafe wach. Strömender Regen klatschte gegen die Scheiben. Krachende Donner machten das Haus in allen Fugen erzittern. Ein besonders greller Blitz gefolgt von splitterndem Bersten riss mich fluchtartig hoch. Nur mit Hemd und Hose bekleidet, raste ich die vier Treppen herunter dem gegenüberliegenden Bahndamme zu. Ohne zu wissen, was eigentlich geschehen war, stand ich vollkommen durchnässt mitten auf der Strecke. In dem betäubenden Schreck hatte ich fast den gellenden Pfiff eines heranbrausenden Zuges überhört. Das Ungetüm von Lokomotive presste zischend und drohend zu beiden Seiten Dampf aus und nahm mich in den Lichtkegeln seiner Scheinwerfer gefangen. Keuchend raste ich mitten im Gleise die Strecke voraus, nicht fähig, den Schienenstrang zu verlassen. Kürzer und kürzer wurde der Abstand. Schliefen denn der Lokomotivführer und der Heizer, dass sie mich gar nicht in den Lichtkegeln bemerkten?
Das Unglück wollte es, dass mir die nur gegürteten Hosen abrutschten. Mit fast tierischem Gebrülle riss ich sie mir ganz vom Leibe. Ich fühlte mich fast von der Maschine gefasst, da warf ich mich schweißtriefend mit letztem kraftangestrengtem Hilferuf mitten in das Gleis. Der Zug rollte mich hinweg, ich war gerettet. Mein letzter Hilferuf hatte meine Frau munter gemacht, sie rüttelte mich wach, Gott sei Dank, es war nur ein Traum, dem ein nunmehr tiefer Schlaf folgte.

Früh am Morgen machte ich mich fertig und stand punkt acht Uhr in der Schreibstube der Bahnmeisterei.
 „Streckenarbeiter werden eingestellt“, antwortete der Beamte auf meine Frage. „Sie dürften den Anforderungen jedoch kaum gewachsen sein.“
„Würden Sie mich bitte beim Herrn Bahnmeister melden, ich muss unbedingt Arbeit haben.“
Im Nebenzimmer, dessen Tür offen stand, hatte der Dienstvorsteher dem Gespräch zugehört. „Kommen Sie mal rein“, rief er mir zu.
 Bescheiden klopfte ich an die geöffnete Tür, nahm Haltung an und brachte mein Anliegen vor.

„Junger Mann“, entgegnete der Bahnmeister auf meine Bitte, „gestern früh trat ein Bahnarbeiter, der Sie um Kopflänge überragte und einunddreiviertel Zentner Gewicht hatte, bei der Rotte ein, bereits um ein Uhr mittags verlangte er die Papiere zurück, da ihm die Arbeit zu schwer sei. Die ganzen Umstände, die eine Neueinstellung mit sich bringt und die ärztliche Untersuchung haben nur unnütze Arbeit und Kosten verursacht. Bei Ihnen ist das schon im voraus anzunehmen. Es tut mir sehr leid, ich muss im Interesse der Verwaltung arbeiten.!“

„Herr Bahnmeister, der Mann hat bestimmt keine hungrige Familie gehabt. Ich muss für vier Personen sorgen, wenn ich nicht arbeite, hat meine Familie nichts zu essen.“
„Das tut mir ja leid, Ihre Kräfte reichen für einen Bahnarbeiter bestimmt nicht aus.“

„O doch, Herr Bahnmeister, wenn ich meine verhärmte Frau und Kinder ansehe und ich weiß , dass nur ich helfen kann, dann verleiht mir diese Tatsache im Verhältnis zu meinem schwächlichen Aussehen Riesenkräfte. Ich würde ja den Arzt und alle etwaigen Unkosten selbst tragen, falls ich Sie enttäuschen sollte, darf ich um einen Versuch mit mir bitten?“
„Junger Mann, darauf kann ich nur sagen, mit Versuchen an Arbeitskräften kann sich die Bahn nicht einlassen.“
„Entschuldigen Sie bitte die Belästigung; wenn man nach Hause kommt, stets mit dem Bescheid ‚abgewiesen’, verliert man allmählich den Lebensmut, guten Tag.“
Meine Hoffnungen waren zunichts geworden, wie im Traum zog ich die Tür hinter mit zu und entfernte mich langsamen Schrittes ohne auf meine Umgebung zu achten.

 So war ich am Ausgang des Bahnhofes angekommen, als mich jemand anrief: “He, Sie!“, ich sah hoch, der Pförtner am Torweg winkte mir zu.
„Waren Sie in der Bahnmeisterei nach Arbeit?“
„Ja, leider erfolglos.“
„Da holen Sie sich mal Ihre Papiere ab, die haben Sie liegen lassen:“
War das bei dieser Aufregung ein Wunder? In der Schreibstube schickte mich der Schreibgehilfe zum Bahnmeister.
„Lieber wäre ich schon selbst hier geblieben, Herr Bahnmeister.“

„Das geht ja nun nicht, junger Mann, aber die Papiere werde ich nun doch hier behalten. Herr Scheumann im Nebenbüro schreibt Ihnen einen Untersuchungsantrag für den Bahnarzt aus. Lassen Sie sich diesen Antrag geben und sich vom Bahnarzt untersuchen. Den Bericht bringen Sie nach hier zurück. Sind Sie vollkommen gesund, können Sie morgen früh anfangen. Alles weitere, wenn Sie vom Arzt kommen.“

„Vielen Dank, Herr Bahnmeister, ich werde Sie nicht enttäuschen.“
 Es sollte wohl so sein, dass ich meine Papiere vergessen hatte.

Meine Gedankenlosigkeit hatte mit zur Arbeit verholfen – vorausgesetzt, ich versagte beim Arzt nicht.
Hoffnungsfroh begab ich mich zu diesem und übergab ihn den Antrag zur Untersuchung.
„Wer hat Sie denn zu mir geschickt, der Dienstvorsteher oder der Gehilfe?“
„Der Dienstvorsteher, Herr Doktor!“

Wie ist das bloß möglich gestern sagt er mir, ‚Riese Goliath’ hat wegen zu schwerer Arbeit aufgehört und heute schickt er Sie zur Untersuchung. Besitzen Sie denn verborgene Riesenkräfte?“
„Nein, Herr Doktor, dafür aber Familie, für die ich sorgen muss Ich denke mich ja ach ‚hoch’ zu arbeiten, dann habe ich es nicht mehr so schwer. Die Arbeit schaffe ich bestimmt, machen Sie mir bitte keinen Strich durch die Rechnung!“
„Wenn Sie gesund sind, meinen Segen sollen Sie haben“, sagte der Arzt und untersuchte mich gründlich.

Das Ergebnis war ‚vollkommene Tauglichkeit für den Eisenbahndienst’.

„Sie sind gesünder als Sie aussehen. Essen Sie mal tüchtig Fleisch und Gemüse und trinken Sie täglich einige Flaschen Malzbier, damit Sie ‚Mumm’ in die Knochen bekommen. Hüten Sie sich jedoch vor dem Saufen, das ist das Gefährlichste, was es für einen Eisenbahner geben kann.

Inzwischen hatte der Arzt den Untersuchungsbefund ausgefertigt und übergab ihn mir im verschlossenen Umschlag für die Dienststelle.

Bald befand ich mich wieder auf der Straße, der Himmel hing mir ‚voller Geigen’.

„Morgen früh sechs Uhr melden Sie sich beim Rottenführer Müller“, beauftragte mich der Bürogehilfe, nachdem er den Untersuchungsbefund gelesen und mich mit den Bestimmungen für den Eisenbahndienst bekannt gemacht hatte. Ich war endgültig zum Eisenbahnbediensteten avanciert.

 Frohgemut ging ich, so schnell mich die Füße nur tragen konnten, zu Frau und Kindern. Eine große Schüssel bester Magermilchsuppe stand einladend auf dem Tische bereit, das Erzählen und Beraten wollte kein Ende nehmen. Zur Feier des Tages gab es am Abend einige schön knusprig gebratene Kartoffelpuffer. Dann wurden die Luftschlösser gebaut, eines immer schöner als das andere und dennoch nicht so schön, wie ich es mir später in Wirklichkeit bauen konnte.

 Ich stand im achtundzwanzigsten Lebensjahre, als ich am 16. Juni 1907 früh sechs Uhr beim Rottenführer Müller zum Dienst antrat.
„Was haben Sie auf dem Herzen?“
„Ich soll mich bei Ihnen zur Arbeit melden, Herr Müller.“

„Was wollen Sie bei mir denn arbeiten? Auf der Strecke kann ich Sie nicht brauchen, da hat vorgestern ein stämmiger Kerl von eindreiviertel Zentner schon nach sechs Stunden die Arbeit niedergelegt........“
„Das weiß ich alles schon vom Bahnmeister, er hat mich trotzdem auf mein Bitten eingestellt und zu Ihnen geschickt.“

„Mir soll es recht sein, wenn Sie aber morgen wieder ‚schmeißen’, dann holt Sie der Teufel lotweise.“
„Das wird der Teufel nicht tun, Herr Müller.“
„Na, dann mal los. Schulze, nehmen Sie den Mann mit in die Stoppkolonne und nicht so oft ‚Fuffzehn’ (ausruhen) gemacht, immer gleich richtig einschätzen lernen.“
Zehn Minuten später stand der ehemalige Schneider- und Bäckergeselle, Zuschneider, Schneidermeister und Fabrikarbeiter auf der Strecke Berlin-Hamburg mit einem ca. sechs Pfund schweren Stopphammer mitten im Gleise und stoppte im gleichmäßigen Vierertakt Steinschlag unter die gelockerten Schwellen.

Es war gar nicht so schlimm, den Takt zu halten. Der Rücken schmerzte allerdings nach zehn Minuten etwas, das würde sich schon geben.

Etwa 20 Minuten mochten wir so in gebückter Körperstellung gestoppt haben, - ich klopfte drauf los, was die Kraft nur hergeben wollte – als der Kolonnenführer ‚Fufzehn’ gebot. Meine Arbeitskameraden stellten sich gerade und die Stopphämmer in Ruhestellung auf die Schwellen, ich – kam nicht hoch, brachte auch die an der Stopphacke festgekrampften Hände nicht los. Langsam ließ der Krampf im Rücken und in den Händen nach. Da ertönte bereits wieder das Kommando ‚Weiter!’ Das war bedeutend schwieriger als das erste Mal. Wieder wurde eine ganze Schienenlänge durchgestoppt. ‚Fufzehn’ wurde wieder geboten, dieselben Beschwerden wie vorher machten sich bemerkbar, nur etwas schmerzhafter.

Bis zur Frühstückspause hatten wir etwa sechs mal ‚Fufzehn’ gemacht, jedes Mal hatten sich die Beschwerden verstärkt. Zuletzt brachte ich den Rücken schon nicht mehr gerade.
Frühstück“, ertönte der Ruf des Rottenführers.

Zwei Stunden hatte ich erst gearbeitet – schwer gearbeitet, acht Stunden Arbeit standen noch bevor. An der Bahnböschung ließ ich mich ins Gras fallen. Nur ruhen, ruhen und nochmals ruhen. Gegessen habe ich nichts. Die Pause war vorbei, der Körper hatte geruht. Dreiundeinehalbe musste bis zur Mittagspause noch geschafft werden.

Kurz vor Mittag kam der ‚Einholer’, mir musste er eine Bockwurst mitbringen. N der Pause von einer stunde streckte ich mich wieder an der Böschung lang und richtete mich auch beim Essen nicht hoch.

Arbeitskamerad Willi legte sich neben mir nieder. „Dir sieht man an, dass Du noch nie schwer gearbeitet hast. So wie Dir, geht es allen Anfängern. Beim Stoppen darfst Du nicht so hoch ausholen und so mit Nachdruck zuschlagen. Die Stopphacke brauchst Du nur zu führen, sie drückt durch ihre Schwere den Steinschlag (Schotter) unter die Schwelle. Der ‚Schieber’ will Dich bloß mürbe machen. Nachher stoppe ich neben Dir. Den Hammer nur halb so hoch heben und dann ohne Druck fallen lassen, den Takt hast Du ja raus. In einigen Tagen ist Dir das Stoppen schon viel leichter. Für gewöhnlich machen wir öfter ‚Fufzehn’, ein ‚Neuer’ wird immer erst ‚hochgenommen’, Du darfst Dir da nichts drausmachen.“

Die Mittagspause war vorbei, mit Mühe konnte ich mich auf ‚allen Vieren’ hochrichten. Willi stellte sich neben mich und machte mich auf ale Kniffe der Arbeitserleichterung aufmerksam. Es ging bedeutend leichter. Trotzdem, die Stopphacke hatte bis zum Feierabend noch abertausende Schläge zu leisten.

Endlich und erlösend kam der Ruf. „Genug für heute!“
Wie gerädert kam ich zu Hause an. Ohne mich auszuziehen warf ich mich auf das Bett, nicht fähig, mich erst zu waschen und zu essen. Der innere Aufruhr und die Schmerzen waren zu groß; nur ruhen wollte ich. Am späten Abend brachte mir ‚Muttchen’ eine Tasse Fleischbrühe mit Ei verquirlt und einige belegte Brötchen. Langsam entspann sich der Körper.

Schlafen konnte ich vor Muskelschmerzen nicht, und wenn ich wirklich mal eindruselte, fingen die Arme konvulsivisch zu stoppen an und erweckten mich.
Jedenfalls hatte ich ‚Riese Goliath’ in den Schatten gestellt.
Über eine Woche musste ich vollkommen überanstrengt, vom Dienst kommend sofort zu Bett gehen, ohne erst zu essen. Beim Auskleiden musste ‚Muttchen’ helfen. Erst nach Stunden war ich in der Lage, mein Abendessen im Bett einzunehmen.

Körperlich kam ich nach und nach sehr herunter. Meine liebe Frau glaubte mir schon den Rat erteilen u müssen, mich nach anderer Arbeit umzusehen. „Nicht, bevor ich zusammenbreche“, erwiderte ich meiner sorgenvollen Frau.

Fünf Woche hatte ich schon ausgehalten, ich hatte die Gewissheit: Nun halte ich durch.
Weitere Wochen vergingen, als unsere Kolonne den Auftrag erhielt, Pflastersteine zu verladen. Für jeden Waggon waren bestimmte Kräfte und Stunden vorgesehen, hatte eine Kolonne schneller geladen, durfte sie Feierabend machen. Das war die schwerste und anstrengendste Arbeit, die ich je geleistet habe. Hinter den Arbeitskameraden durfte ich nicht zurückbleiben, wollte ich mir nicht den Vorwurf des ‚Durchschleppenmüssens’ machen lassen. Ich arbeitete ohne Rücksicht auf den Kräfteverbrauch.
 Drei Monate arbeitete ich bereits in der Bahnmeisterei, als meine Kraft zu Ende ging.

Eines Sonnabends gegen Mittag, der Wagen war schon gut geladen, überfiel mich eine bisher ungekannte Schwäche. Arbeitskameraden führten mich zur Böschung und ließen mich in das Gras nieder. Hoch kam ich nicht mehr, ich wurde vom Schüttelfrost befallen. Der Rottenführer wurde herbeigerufen.

„Was machen Sie denn für Geschichten?“ sagte er, nicht unfreundlich zu mir.
„Das weiß ich auch nicht, Herr Müller, so etwas ist mir noch nicht passiert. Nun ist es mit der Lebensstellung aus, ich wollte nicht eher nachgeben, bis ich zusammenbreche; es ist soweit, ich kann nicht mehr. Lassen Sie mich erst etwas erholen, dann gehe ich nach dem Büro und hole meine Papiere, so schwer mir das auch wird.“
 Die Gedanken an eine erneute Arbeitslosigkeit und damit verbundenen Zusammenbruch aller Hoffnungen machten mich auch seelisch vollkommen fertig.

 „Machen Sie keine Faxen, Jetschke, ich habe Sie schon lange beobachtet und ihre Ausdauer bewundert. Sie bleiben hier, ich werde mich für Sie ins Zeug legen. Solche Menschen kann die Eisenbahn gebrauchen. Beruhige Sie sich erst einmal, hernach bringt Sie ein Kamerad nach Hause. Bis Montag werden Sie schon wieder auf Posten sein, dann stehen Sie auf der Strecke Sicherheitsposten, aber warm anziehen! Sind Sie damit einverstanden?“

Und ob ich damit einverstanden war!

Im Arbeiter-Aufenthaltsraum hatten Kameraden inzwischen einen reichlichen ‚steifen Grog’ gebraut. Gierig trank ich darauf los, wickelte mich in einige Decken und streckte mich auf der Tragbahre aus. Bald kam ich in Schweiß und erholte mich nach und nach. So blieb ich bis Feierabend liegen und begab mich mit einem in meiner Nähe wohnenden Arbeitskollegen nach Hause.
Am nächsten Montag war ich wieder auf der Arbeitsstelle. Ich wurde als Sicherheitsposten zu einer in den Hauptgleisen Berlin-Hamburg arbeitenden Kolonne gestellt, um diese durch Signalisierung der Züge vor dem Überfahrenwerden zu schützen.

Diesen Dienst hatte ich etwa vierzehn Tage versehen, als der Bahnmeister einen Revisionsgang unternahm. Er sah mich und fragte: „Was machen Sie denn hier?“ Ohne mich von der Beobachtung der Strecke freizumachen, antwortete ich: „Ich bin als Sicherheitsposten hergestellt, Herr Bahnmeister.“
„Davon weiß ich ja gar nichts, wer hat Sie denn damit beauftragt?“ „Der Rottenführer Müller, Herr Bahnmeister.“

Der Bahnmeister trat auf den Rottenführer zu, erhielt von diesem Bericht über meine Erkrankung und meine beabsichtigte Kündigung; auch sonst musste der Rottenführer wohl günstig über mich berichtet haben. Zu 12 Uhr mittags wurde ich nach dem Büro bestellt und als Sicherheitsposten auf Handschlag verpflichtet.
 „Herr Jetschke, Sie sehen schlecht aus“, bemerkte der Dienstvorsteher, „die Streckenarbeit ist wohl doch schwerer als Sie das gedacht haben.“
„Jawohl, Herr Bahnmeister, ich hatte vorher noch nicht so schwer gearbeitet.“
„Rottenführer Müller hat gut über Sie berichtet. Ich habe mich entschlossen, Sie am 1. Januar bei Inbetriebnahme des neuen Vorortbahnhofs als Türschließer zu überweisen. Das ist gegenüber der Streckenarbeit eine Erholung für Sie.“

Vor vierzehn Tagen zu Tode betrübt, fühlte ich mich heute wieder einmal als der glücklichste Mensch und konnte den Feierabend nicht erwarten, um meiner treusorgenden Berta die gute Nachricht zu überbringen. Der Weg um Aufstieg war erkämpft, wenn auch unter größten Anstrengungen.
Auf dem Nachhauseweg besorgte ich mir erst einen Strauß roter Nelken für ‚Muttchen’ und überbrachte ihr mit diesem die freudige Nachricht vom glücklich überstandenen Arbeitskampf.
Ehe ich diesen Abschnitt schließe, muss ich noch eine gefährliche und doch glücklich verlaufene Episode aus meiner Tätigkeit als Sicherheitsposten berichten.

An einem Morgen, es dämmerte noch, arbeitete die Kolonne während des Berufsverkehrs an einer Stelle, an der sechs Hauptgleise und ein Anschlussgleis nebeneinander liefen.

In etwa fünfzig Meter Abstand von der Kolonne waren an beiden Enden vorschrifts- und odnungsmäßig Sicherheitsposten aufgestellt. Der starke Verkehr brachte es mit sich, dass fast zu gleichen Zeit auf sechs Gleisen Züge vorbeifuhren, während auf dem Anschlussgleis rangiert wurde. Auf dem Arbeitsgleis näherte sich ein Eilzug aus Richtung Berlin. Rechtzeitig gab ich der Arbeitskolonne das Signal zum Austreten aus den Gleisen. Das Gerattere und Getöse auf den Nebengleisen und starker Wind aus der Gegenrichtung verhinderte die Beachtung des gegebenen Signals. Ich wiederholte dasselbe mit aller Kraft, wieder ohne Erfolg. Kurz entschlossen gab ich Notsignale, auch diese versagten. Die Kolonne schien unrettbar verloren. Da warf ich, ganz und gar von Sinnen, das Signalhorn weit von mir und brüllte wie irrsinnig aus Leibeskräften. Dieser Verzweiflungsschrei wurde gehört. Es gelang den Arbeitskameraden mit knapper Not das Gleis flüchtend zu verlassen. Der Eilzug sauste ohne das Geringste bemerkt zu haben, über die kritische Stelle. Die Kolonne von acht Mann war gerettet. Außer einigen beschädigten Geräten war kein Schaden entstanden. Zufällig war ein zur Kolonne zurückkehrender Kamerad n der Nähe und hatte meine verzweifelten Bemühungen beobachtet. Der Vorgang hätte sonst bei Eintritt einer Katastrophe auch für mich katastrophale Folgen haben können.

* * * * * * * * * * *

Am 1. Januar 1908 stand ich stolz, mit neuer Joppe und Dienstmütze bekleidet, auf dem in Betrieb genommenen Vorortbahnsteig und erwartete die Ankunft des ersten Zuges. Das Personal war vom Dienststellenleiter entsprechend instruiert worden - , die Räder konnten rollen.


Um 12.05 Uhr nachts hielt der erste Zug am Bahnsteig. Ein einzelner Fahrgast in vollgesaugtem Sylvesterzustande verließ den Zug aus der zweiten Klasse und versuchte, den Bahnsteig in kurvenreichen Windungen zu verlassen. Nach Abfertigung des Zuges folgte ich ihm, um gegebenenfalls an der etwa 30 Stufen zählenden Steintreppe behilflich zu sein – Zuvorkommenheit und Hilfsbereitschaft gehören zu den Pflichten der Eisenbahner - .

Die Treppe war glücklich überwunden, da wurde unser ‚Eröffnungsfahrgast’ von schwerer ‚Seekrankheit’ befallen. Die sauber gestrichenen Tragsäulen des etwa dreißig Meter langen Tunnels schienen dem ‚erkrankten’ Passagier Segelmaste u sein. Er klammerte sich verzweifelt daran fest und spendete dem ‚Meeresgott’ die fälligen Tribute. Mit Hilfe frischen Wassers – Wasser gehört nun einmal zur Seekrankheit – brachte ich ihn wieder zu sich.

Mit den Worten: „Wenn das meine Mutti wüsste“, drückte mir der Eröffnungspassagier einen Taler in die Hand. „Bring’ mal die Sache wieder in Ordnung“, sagte er noch und verschwand, immer noch unsicheren Schrittes.

 Dieser Vorfall eröffnete ja die verschiedenartigsten Perspektiven für die zukünftige Tätigkeit.

Am Bahnsteig steht ein Zug zur Abfahrt bereit. Die Fahrgäste sind eingestiegen, die Türen geschlossen; ich erhebe die Hand mit dem für den Aufsichtsbeamten bestimmte Zuruf ‚Fertig!’ Der Aufsichtsbeamte gibt mit dem Befehlsstab den Auftrag zur Abfahrt an den Lokomotivführer. Da ertönt vom Treppenpodest der Zuruf: “Du dussliges Schwein brüllst fertig, Du kannst wohl nicht warten bis die olle Frau eingestiegen ist?“
Der Zug hatte sich in Bewegung gesetzt. Eine ältere Frau, die nachträglich die Treppe hoch kam, konnte ich von meinem Standort nicht bemerken.
In Abweisung der ungehörigen Anrede riet ich dem Rüpel, sich zu beherrschen, da er nicht in der Lage sei, meine Dienstobliegenheiten zu beurteilen.
„Quatsche nich’ so dämlich, Dir müsste man gleich eene in die Fresse haun!“
Noch immer ruhig, verbat ich mir diese Beleidigungen und ersuchte den Renitenten, den Bahnsteig zu verlassen, da ich ihn sonst dem Aufsichtsbeamten vorführen würde.
„Du dämlicher Hund, hast doch noch keenen vorgeführt, da könnste Deine Knochen gleich im Taschentuch nach Hause schleppen!“

Diese Beschimpfungen durfte ich angesichts des Publikums nicht auf sich beruhen lassen, also machte ich von dem mir zustehenden Recht Gebrauch.
„Bitte verlassen Sie sofort den Bahnsteig, oder Sie folgen mir zum Aufsichtsbeamten!“
Das bestimmst Du Troddel doch nicht.“
„Ich fordere Sie auf, folgen Sie mir zum Aufsichtsbeamten, oder ich führe Sie mit Gewalt vor!“
„Da bist Du viel zu feige zu.“
Ich trete an den Vorzuführenden heran, fasse zu und erhalte im gleichen Augenblick einen Schlag mit einem stumpfen Gegenstand über den Kopf.

Das Blut strömt aus einer Kopfwunde über die Kleidung, ich taumle, lasse den Angreifer jedoch nicht los.
Ein Kollege vom Nachbarbahnsteig sowie ein Reisender kamen zu Hilfe. Wir hatten zu tun, den Ungebärdigen gewaltsam vorzuführen.
Nach einem Notverband musste ich die Unfallstelle aufsuchen, wo die Wunde vernäht wurde. Am Abend stellte sich eine Gehirnerschütterung ein. Nach vierzehn Tagen konnte ich meinen Dienst wieder versehen.
Ein Forstbeamter hatte den Vorfall beobachtet und mein äußerst korrektes Verhalten zu Protokoll gegeben. Der schon vorbestrafte Täter musste seine unüberlegte Handlung mit sechs Wochen Gefängnis büßen.....
 n einem Sonntag besteigt ein stets freundlicher Stammfahrgast in Jägerkleidung den Zug und ruft mir ermunternd zu: „Na, Herr Eisenbahnminister, möchten Sie heute nicht lieber zur Treibjagd mitkommen?“

„Mögen möchte ich schon, Herr Doktor, da hätten die Hasen von mir aus auch mal einen Sonntag, nur bin ich sehr empfindlich und gegen etwaige Kunstschüsse nicht gefeit. Waidmannsheil, Herr Doktor:“
„Waidmannsdank!“

Am Abend kommt der Doktor – ein Junggeselle – in bester Jägerstimmung zurück, drei Hasen als Siegestrophäe an seiner Seite.
„Die möchten Sie wohl haben?“
„Unter keinen Umständen, Herr Doktor, höchstens den kleinen, falls er auf mein Waidmannsheil von heute früh gebucht werden müsste.“
Das war alles scherzhaft gesagt und aufgenommen worden.

Der Zug war abgefertigt, ich drehe mich nach dem sich entfernenden Fahrgast um, da sehe ich einen Hasen auf dem Bahnsteig liegen. Den Hasen aufheben und dem Reisenden nachrennen war eins.
„Herr Doktor,“ rufe ich ihm zu und halte ihm die Jagdtrophäe entgegen. „Der Hase scheint noch nicht ganz tot zu sein, er treibt hier auf dem Bahnhof seine Kapriolen.“
Der Doktor lacht und sagt: “Der kommt auf Ihr Waidmannsheil, schlagen Sie in noch töter und schenken Sie ihn Muttern für die Bratpfanne.“
Das war ein ‚gefundenes Fressen’. Daheim war die Freude groß. Künftig brauchte der Doktor beim Einsteigen keine Tür mehr zu öffnen und zu schließen, sofern ich ihn vom Weiten bemerkte. Leider musste ich ihm bald nachtrauern; eine Versetzung hatte ihn meinem Interessenkreis entzogen.

So brachte der neue Dienstposten angenehme wie unangenehme Ereignisse in bunter Reihenfolge. Einen Vergleich gegenüber den für mich ungleich schwereren Streckendienst konnte der Dienst als Türschließer selbstverständlich nicht standhalten.
In eigenem Interesse hatte ich jede freie Stunde benutzt, um mich zu vervollkommnen. Den Telegraphendienst beherrschte ich schon nach eigenen Wochen. Im Nachtdienst war ich ganz allein auf dem Bahnsteig, das benutzte ich zur Auffrischung der in der Schule vernachlässigten und jetzt dringend erforderlichen geographischen Kenntnisse. Auch meiner Schwäche für Dichtkunst konnte ich ungestört frönen und mich dadurch in Deutsch vervollkommnen.
Eines Nachts – ich versuchte gerade die Eisenbahn in Poesie und Prosa in Versform zu fassen – macht der Dienstvorsteher eine Nachtrevision:
„Was treiben Sie denn da?“
„Ich frische meine Schulkenntnisse auf und versuche mich in der Dichtkunst.“
„Besser wären die Dienstvorschriften und der Telegraphenapparat, damit Sie den Aufsichtsbeamten unterstützen können. Sie wollen doch vorwärts kommen?“
„Jawohl, Herr Vorsteher, Telegraphenvorschriften und Morseapparat glaube ich genügend zu beherrschen, den Dienst darf ich ohne Prüfung nicht wahrnehmen.“
„Wann haben Sie denn das gelernt?“
„In den Nachtpausen, Herr Vorsteher.“
„Na, da zeigen Sie mal Ihre Kunst.“

 Ich arbeitete frisch drauf los und bekam ein Lob. „Sie arbeiten ja wie ein alter Telegraphist. Machen Sie mal so weiter.
Welcher Art ist denn Ihre Dichtkunst?“

„Ich versuche mich in humoristischem Fatalismus.“
Donnerwetter, Mann, wo haben Sie denn als Türschließer diese Ausdrucksweise her, Sie lesen wohl sehr viel?“
„Gute Bücher ja, in der Schule bekam ich oft Tadel, meine Aufsätze nicht selbst gefertigt zu haben, aber stets zu unrecht.“
„Zeigen Sie doch mal Ihr dichterisches Vergehen!“
 Ich las dem Vorsteher einige Verse vor:

‚Die Eisenbahn’

An den Schaltern drängen Mengen,
die hinaus aus Großstadtengen
in das Freie sich ergießen,
Um den Frühling zu genießen.

Väter, Mütter, Kinder, Tanten,
und die sonstigen Verwandten,
Jugend in wohl x-Vereinen,
alles ist heut’ auf den Beinen.

Ja, ein schöner Sonntagmorgen
Macht vergessen alle Sorgen.
Und so eilt im Frühlingswahn
alles hin zur Eisenbahn.

Auf dem Weg zur Bahnsteigsperre
Gibt’s ein Hin- und Hergezerre,
„Vater, hast Du unsere Karten?“
Hier der Schaffner lässt uns warten.“

 „Hör’n Sie, das sind meine Beine“,
„wem gehört denn hier die Kleine?“
„Kinder, sputet Euch doch bloß,
unser Zug fährt ja gleich los!“

Endlich kommen alle Mann
Quietschvergnügt am Bahnsteig an.
Lautes Drängen und Gebaren,
denn der Zug kommt angefahren.

Wilde Gesten, tolles Schieben.
„Wo ist Lotte bloß geblieben?“
Die inzwischen sitzt famos
Ihrem Fritzchen auf dem Schoß.

Alte Schimpfen, junge kichern,
durchgewirbelt wie bei Blüchern,
prustend fährt das Zügle an,
schön ist’s auf der Eisenbahn.

„Ein weiteres Dutzend Verse sind noch im Entstehen, Herr Vorsteher.“
„Sie sind ja ein Allerweltskerl. Wenn Sie das fertig haben, geben Sie mir eine Abschrift. Nun will ich Ihnen mal etwas raten, reichen Sie ein Gesuch um Ausbildung zum Eisenbahngehilfen ein, Sie haben das Zeug dazu, ich werde es befürworten.“
 Ich war wieder allein -, wollte es denn gar nicht Feierabend oder viel mehr –morgen werden? Ich musste doch meinem Bertchen diese guten Nachrichten überbringen.

 Endlich war es so weit, mein Bertchen freute sich mit mir. Wie hatte es noch vor zwei Jahren ausgesehen?!

Schon seit zwei Jahren versah ich meinen Dienst als Telegraphist auf einem großen Berliner Bahnhof.
Der Weltkrieg 1914/18 war ausgebrochen. Millionen Gefallene und Verwundete hatten die Schlachten gefordert. Abermillionen Hinterbliebenen war das Herz gebrochen. Mir selbst hatte dieser Krieg so vieles zum Denken gegeben.
Hatte ich schon in den für mich schweren Zeiten die Existenz eines ‚Gottes’, wie er uns in der Schule geschildert war, abgestritten; der Krieg bewies es: ‚Einen Allmächtigen Gott gibt es nicht!’ Er hätte nie geduldet, dass seine Werke von Menschenhänden in solch frivoler Art vernichtet wurden. Alle kriegführenden Nationen beteten zu dem einen Gott: „Vernichte unsere Feinde und schenke uns den Sieg.“

Welchen Völkern sollte da ein Gott wohl helfen? Nach dem religiösem Glauben sind doch alle Menschen seine Kinder. Wenn die gläubigen Christen den Ausgang des Krieges 1939/45 als gottgewollt anerkennen, dann müssen sie auch das Deutsche Volk als das schuldige Volk betrachten; darüber kann es auch keinen Zweifel geben.

Dann sind auch die Kriegsverbrecher noch viel zu gut weggekommen. Zehnfach haben diejenigen den qualvollsten Tod verdient, die in deutschen Konzentrationslagern hunderttausende von einsichtigen Volksgenossen erbarmungslos hinmordeten, die sogar eine nach Millionen zählende Religionssekte mit Frauen und Kindern bestialisch hingemordet hätten, wenn der Ausgang des Krieges anders gekommen wäre.

Ungezählte jüdische Gläubige sind trotzdem diesen Massenmördern um Opfer gefallen.
Nun soll der ‚Herrgott’ gar diese Kriegsverbrecher als Geißeln für den Unglauben geschickt haben.
Diese Gedanken haben mich Jahr und Tag beschäftigt; Gott ist die Natur. Die Natur ist mysteriös und daher den unwissenden Menschen heilig, und diese Heiligkeit wollen wir gerne anerkennen, denn sie bietet vielen Menschen einen festen Halt.

Ende des Weltkrieges 1914/18 erfüllte sich endlich men Lebenstraum. Nach elfjährigem Eisenbahndienst hatte ich mir, angefangen vom Streckenarbeiter, eine bescheidene Beamtenstellung mit Pensionsberechtigung erkämpft. Weit hinter uns lagen die Begebenheiten mit Schlamperts, das Erleben des eigenen Niederganges, der Reisekorb-Schlittenumzug und alle bösen Erinnerungen. Neues Erleben ernster und heiterer Art rollten im Kampfe ums Dasein an mir vorüber. Als ‚Bahnhofsvorsteher’ – so werden die Aufsichtsbeamten noch heute in Unkenntnis bezeichnet – stand ich im bescheidenen aber berechtigten Stolz noch lange Jahre auf einem der bekanntesten Berliner Fernbahnhöfe (Lehrter Bahnhof) mit internationalem Verkehr.


Es war beileibe kein Dummstolz, hatte ich mir doch diese Stellung, wie die leiben Leser ja bereits wissen, im schweren Ringen um das Dasein mit Schippe und Stopphacke erkämpft und auch verdient.

Kein sogenannter guter Onkel, kein zwölfjähriges Soldatsein hatten mir den schweren Weg dazu gebahnt.
 Daheim hatte sich mit meinem Emporsteigen auf der dienstlichen Stufenleiter auch so manches geändert.
 Mein Gehalt hatte sich nach und nach nicht unwesentlich erhöht. Höhere Einkommen bedingen höhere Ansprüche und damit auch höhere Ausgaben.
‚Um letztere durchführen zu können’, hatten wir uns in unserem Glücksempfinden, nach einer vierzehnjährigen Pause, eine kleine Elfriede angeschafft.

Bitte nicht lächeln, liebe Leser, es war wirklich nur aus diesem Grunde passiert. Der Älteste, nunmehr schon 17 Jahre alt, hatte die Reifeprüfung hinter sich und bereitete sich auf den Bücherrevisor vor und Lottchen erlernte die Hauswirtschaft.
 Als ‚eine selbstverständliche Glückssache’ betrachteten wir es, dass wir eine sehr geräumige 2 ½ Zimmer-Neubauwohnung mit dem so längst ersehnten Bad und sonstigen Bequemlichkeiten beziehen konnten.

Meinem ausdauernden Fleiß durfte ich also auch den wirtschaftlichen Aufschwung zuschreiben...
Diesem Buche habe ich die meisten meiner bisherigen mehr oder weniger heiteren Erlebnisse anvertraut, ich möchte noch einige Begebenheiten aus meiner Dienstzeit als rotbemützter Aufsichtsbeamter hinzufügen, soweit keine Hinderungsgründe vorliegen.
 
Der Abendschnellzug nach Hamburg steht am Bahnsteig. Ich habe mich von der ordnungsmäßigen Beschaffenheit des Zuges überzeugt, Meldungen des Zugpersonals entgegen genommen und bin mit Auskunfterteilung beschäftigt. Ein sehr adrettes etwa achtzehnjähriges Mädelchen – fast Dame – wird mir vom Schaffner vorgeführt.
 "Herr Vorsteher, die Dame möchte Sie persönlich sprechen.“
„Bitte, Fräulein, welches Anliegen haben Sie?“

„Herr Vorsteher, kann ich Sie nicht einmal unter vier Augen sprechen? Mir ist etwas unglaubliches passiert, hier vor allen Reisenden könnte ich mich Ihnen nicht anvertrauen.“
„Bitte stellen Sie sich einen Augenblick zur Seite, ich bin sofort zurück.“
Einige dringende Dienstverrichtungen waren bald erledigt.
 „So, Fräulein, nun kommen Sie bitte mit nach dem Dienstraum.“
Ich biete dem Mädelchen einen Stuhl an, „bitte, Fräulein, was haben Se auf dem Herzen?“
Verlegen und stockend erzählt sie: „Ich bin von der Tante geflüchtet und muss unbedingt nach Hamburg zu den Eltern zurück. Leider habe ich nicht das erforderliche Geld. Können Sie mir nicht irgendwie helfen? Mit einem guten Rat ist mir nicht gedient.“

„Wertes Fräulein, wer reisen will, muss schon das Geld dazu aufbringen, ich kann Ihnen leider nicht helfen, konnten Sie sich das Geld nicht von der Tante ausbitten?“
„Herrgott, muss ich denn erst das Häßliche sagen, damit Sie mir helfen?“

„Fräulein, in diesem Falle kann ich überhaupt nicht helfen, ohne Fahrgeld können Sie keine Reise antreten.“
 Das kleine Fräulein wird über das ganze Gesicht rot und beichtet mir den die Flucht veranlassenden Vorgang.

„Ich pflege fast ein ganzes Jahr meine kranke Tante. Nun hat mich die Tante in krankhafter Aufregung ohne jede Veranlassung ins Gesicht geschlagen, mir die Haare gezaust und mich schwer beleidigt, warum, kann ich unmöglich sagen. Unmöglich ist es mir aber auch, zur Tante zurückzukehren, sie hat mir die Tür gewiesen. Bitte rufen Sie doch meinen Vater, Pfarrer X in Hamburg an, wir sind auf dem Hamburger Vorortbahnhof Y sehr bekannt, hier in Berlin bin sonst vollkommen fremd und wüsste nicht, wo ich unterkommen könnte.“               

Dem Aufsichtsbeamten sind Vorschriften und Paragraphen gegeben, die er zu beachten hat, an die er jedoch nicht starr gebunden ist. In unvorhergesehenen Fällen hat er nach verständigem Ermessen zu handeln.
Schon während der Erzählung hatte ich eine Verbindung mit dem Kollegen des Hamburger Vorortbahnhofes herstellen lassen. Die Angaben meiner ganz aufgelösten Bittstellerin trafen zu, der Hamburger Aufsichtsbeamte verbürgte sich für die ordnungsmäßige Ausstellung einer Nachlösekarte Berlin-Hamburg.
Beruhigt übergab ich dem Zugführer des Hamburger Schnellzuges die mittellose Reisende mit dem schriftlichen Auftrage, diese ohne Fahrkarte bis Hamburg mitzunehmen und dem dortigen Aufsichtsbeamten zwecks Nachlösung vorzuführen. Der Auftrag erhielt noch den Zusatz ‚Bahnhof Hamburg und Eltern der Reisenden sind telefonisch verständigt’.

Noch am gleichen Abend berichtete mir der Hamburger Kollege die ordnungsmäßige Erledigung der Angelegenheit. Vierzehn Tage später erhielt ich einen in gutem Stil und kalligraphischer Schrift gehaltenen Brief der von der Tante Geflüchteten mit den herzlichsten Dankesworten. Die Eltern schlossen sich mit Dank und Anerkennung an.

Mir bleibt dieser Vorgang eine liebe Erinnerung an meine Dienstzeit.
Es ist zwei Uhr nachts. Der letzte Zug ist eingelaufen, der Personenverkehr ruht. Die Außenbeleuchtung ist ausgeschaltet, scheinbar tiefe Stille im ganzen Betrieb.

Ich sitze allein im Telegraphenzimmer. Einundzwanzig Morseapparate und eine Telefonzentrale mit 85 Anschlüssen sind zu überwachen.

Hier und dort klappern Rufzeichen näher oder entfernter liegender Stationen, ab und zu werden telefonische Verbindungen auf der Zentrale verlangt. Größte Aufmerksamkeit gehört dazu, zwischen all’ den Rufzeichen der Morseapparate und Gruppenfernsprecher den eigenen Ruf nicht zu überhören. Von Ruhe ist nichts zu spüren, kann man doch Telegraphenzimmer und Telefonzentrale mit dem Nervenzentrum eines Menschen vergleichen, das allen Willen vermittelt und in die Tat umsetzen hilft. Die Betriebsruhe ist eben nur eine scheinbare.

Da werden nachts Bahnsteige, Warteräume und Züge gereinigt. In den Fahrkartenausgaben werden Teilabrechnungen vorgenommen. Der Aufsichtsbeamte erledigt seine schriftlichen Arbeiten, soweit ihm das bisher nicht möglich war und versieht die vorgeschriebenen Kontrollgänge.

Auf dem Außenbahnhofe sind Rangierabteilungen die ganze Nacht damit beschäftigt, Wagen aus ankommenden Güterzügen am Güterboden und auf Anschlussgleisen zur Entladung abzustellen und beladene Güterwagen in abfahrende Züge einzurangieren. Zu diesen Arbeiten ist die Mithilfe der unter Führung eines Fahrdienstleiters zusammengefassten Rangierstellwerke erforderlich. Gestellung und Versorgung von Rangier- und Zugmaschinen passen sich dem nächtlichen Getriebe an.

Das alles gehört zum Ablauf des ungefähren nächtlichen Normalbetriebes, von dem die Allgemeinheit wenig hört und sieht....

 Vor mir steht eine Kanne frischgebrühtem Kaffee, um die ermattenden Lebensgeister aufzurütteln. Wohlig schlürfe ich das Labsal herab, da rasselt der Wecker eines Gruppenfernsprechers aufdringlich und scharf.

„Hier ist das Telegraphenbüro Hauptbahnhof, Jetschke.“
„Hier Stellwerk 1, Schmidt. Rangierer Schlegel ist hier 2 Uhr 30 zu Fall gekommen und anscheinend nicht unerheblich verletzt. Der Verletzte wird auf der Bahre nach dort zwecks Anlegung eines Notverbandes gebracht. Öffnen Sie den Rettungskasten und legen Sie sich alles zurecht, veranlassen Sie gegebenenfalls auch den Abtransport nach dem Krankenhaus oder in die Wohnung des Schlegel.“
„Verstanden Jetschke: Rangierer Schlegel, nicht unerheblich verletzt, wird nach hier zur Anlegung eines Notverbandes gebracht. Alle Maßnahmen werden von hier aus sofort ergriffen.!“

„Richtig verstanden, Schmidt, Schluß.“

Ruhiges Überlegen und schnelles Handeln ist in solchen Fällen Grundbedingung jedes Eisenbahnsanitäters und ihm von Anbeginn seiner Laufbahn anerzogen. Also, Rettungskasten geöffnet, Verbandszeug zurechtgelegt, Aufsichtsbeamter verständigt. Schon wird der Verletzte hereingetragen. Blaß und mit schmerzverzerrtem Gesicht lässt er alles über sich ergehen. Er ist unglücklich und dabei doch noch glücklich unter einen in Fahrt befindlichen Wagen gekommen. Vorsichtig wird der Schuh vom verletzten Bein gezogen, die Kleidung in den Nähten mit der Kleiderschere aufgetrennt, die Wunde freigelegt. Keine Knochenbrüche, wohl aber eine schwere Wadenquetschung mit ersichtlicher Zerreißung der Muskulatur. Der Notverband ist schnell und sicher angelegt. Ein Auto steht schon vor der Tür, um den Verwundeten in das nahe, bereits verständigte Krankenhaus zu überführen.
Innerhalb zwanzig Minuten seit Eintritt des Unfalles war ein kunstgerechter Notverband angelegt, nach dreißig Minuten befand sich der Kamerad schon in ärztlicher Krankenhausbehandlung. Das Schwerste stand noch bevor, die Benachrichtigung der Angehörigen, das wurde auf dem Nachhauseweg mit erledigt.

 Inzwischen wollte es die Duplizität der Ereignisse, dass der nächstgelegene Vorortbahnsteig eine Meldung über die Ankunft einer erkrankten Frau in dem ersten, um 5 Uhr früh eintreffenden Vorortzug mitteilte und um die Bereithaltung der Tragbahre ersuchte. Nach Eintreffen des Vorortzuges konnten wir zu unserer Beruhigung feststellen: ‚Die Erkrankte war sehr gesund und hatte einem neuen Erdenbürger den Eintritt in das Leben ermöglicht’. Auch hier erfolgte, auf Wunsch der Mutter, die sofortige Überführung in ein Krankenhaus.

 Der verunglückte Kamerad Schlegel verließ nach zehn Wochen das Krankenhaus, den Dienst als Rangierer konnte er nicht mehr versehen, dafür sitzt er heute als Bahnhofsschaffner in gesicherter Lebensstellung.

Mit den Eltern des ‚geborenen Eisenbahners’ stand ich noch lange Zeit in Verbindung, er ist inzwischen mit seiner Geburtsstätte eng verbunden und versieht Dienst in einer Fahrkartenausgabe.......

Reger Berufsverkehr belebt den Bahnhof. Zubringerzüge überführen im Zwei- und Dreiminutenverkehr tausende und abertausende werktätiger Menschen aus dicht bevölkerten Wohnvierteln in die großen Berliner Industriezentren. Auf den Bahnsteigen ein fast unübersichtliches Durcheinander und Gedränge. Es bedarf größter Umsicht und Entschlossenheit aller Bediensteten, damit der Verkehr reibungslos durchgeführt werden kann.

Leichtsinn und Unsitte, die schon manchen schweren Unfall mit tödlichem Ausgange herbeiführten, müssen unterbunden werden. Zu der verbreitetsten und gefährlichsten Unsitte gehört das Aufreißen der Wagentüren während der Fahrt. Wie oft sind dicht an der Bahnsteigkante stehende Menschen von vorzeitig geöffneten Türen einfahrender Züge verletzt oder gar getötet worden. Trotzdem finden sich immer Menschen, die die warnenden Zurufe der Bediensteten nicht nur nicht beachten, sondern sich noch obendrein grobe Ungehörigkeiten zu Schulden kommen lassen, wie aus folgendem ersichtlich ist:

Ein stark besetzter Vorortzug fährt an den voll Menschen stehenden Bahnsteig ein; ich habe Aufsichtsdienst. Türen werden schon lange vor dem Halten des Zuges aufgerissen. Füße sprungbereit auf die Trittbretter gestellt, um durch schnelles Umsteigen im Anschlusszug einen Sitzplatz zu erhalten.

Warnend fordere ich durch Zuruf zum Zurücktreten in das Abteil und Schließen der Wagentüren auf. Die Einsichtigen unter den Fahrgästen kommen der Aufforderung sofort nach. Ein an mir vorbeifahrender großer, robuster Reisender in hellem Anzug, eine gefüllte Fünfliterflasche in einer Hand, in der anderen die geöffnete Tür, sieht mich hohnlächelnd an ‚nun erst recht!’ und steigt noch während der Fahrt auf das Trittbrett, mich ob meines Warnrufes mit höhnischen Blicken musternd. Da ist das Unglück aber auch schon geschehen, eine junge Frau ist, von der Tür erfasst, umgestoßen worden und unter den Zug gekommen. Ein beherzter Fahrgast hat sofort die Notbremse gezogen, ruckartig steht der Zug.

Der Übeltäter versucht zu fliehen. An der Bahnsteigtreppe trete ich ihm entgegen. Meiner Aufforderung, mir zum Dienstraum zu folgen, kommt er nicht nach. In zu später Einsicht seiner strafbaren Handlung glaubt er, im Gedränge entkommen zu können. Die Angst vor dem u erwartenden Schwierigkeiten lässt ihn unüberlegt etwas Unverzeihliches tun.

Ich vertrete ihm den Treppenabgang, da bekomme ich plötzlich einen Stoß vor die Brust und stürze rücklings die Steintreppe herunter. Im Hintenüberschlagen fasse ich, blitzartig Halt suchend, den Renitenten mit beiden Händen an der Brust und reiße ihn durch mein in Sturz befindliches Körpergewicht im Salto mortale über mich hinweg. Auf dem Treppenabsatz zersplittert die Fünfliterflasche, der Flüchtige kollert sich mit seinem hellen Anzug in einer Glyzerinlache und versucht, vollkommen kopflos, weiterzufliehen. Ich vermag ihn zu halten bis einige Bedienstete mir zur Hilfe kommen; mit Gewalt muß er zum Dienstraum gebracht werden.

Inzwischen haben weitere Bedienstete, die unter dem Zug liegende Bewusstlose hervorgezogen und auf einer Tragbahre nach dem Verbandsraum befördert. Mit dem Kopfe lag sie, nur wenige Zentimeter entfernt, auf der Schiene. Außer einer klaffenden, stark blutenden Kopfwunde, die schnell verbunden wird, lässt sich vorläufig nichts feststellen. Ein schnell herbeigerufener Polizeimeister führt den am Unfall Schuldigen zwecks Feststellung der Personalien ab.

Die Verunglückte st wieder zur Besinnung gelangt und begibt sich nach einer protokollarischen Vernehmung mit Hilfe einer zurückgebliebenen Arbeitskameradin in ärztliche Behandlung. Sie hatte Glück im Unglück und konnte bereits nach 8 Tagen die Arbeit wieder aufnehmen.

Der Berufsverkehr ist vorüber, ich bin mit der Abfassung des Berichtes über den durch unglaubliche Leichtfertigkeit eines Reisenden herbeigeführten Unfalls beschäftigt, da klopft es bescheiden an die Tür. Auf mein ‚Herein’ tritt der am Unfall schuldige Reisende ein. Blassgelb, in sich zusammengesunken, kaum wieder zu erkennen. Verschwunden ist das selbstsichere Auftreten, sein höhnischer Blick.
Er spricht nichts, wartet, bis ich ihn anrede:
„Was wünschen Sie noch? Ich bedarf Ihrer nicht mehr, die Personalien bekomme ich vom Polizeirevier.“
„Herr Vorsteher, ich wollte Sie nur bitten, machen Sie mich nicht unglücklich, ich sehe ja ein, was ich mit meinem Verhalten verschuldet habe.“
„Na, dann werden Sie wohl auch einsehen, dass ich nicht Sie, sondern Sie sich selbst ins Unglück gestürzt haben und dafür auch büßen müssen.“

„Ja doch, Herr Vorsteher, es kam alles so schnell. Dutzende Male bin ich während der Fahrt abgesprungen, man hat’s doch immer eilig, nie ist etwas passiert und heute musste es so kommen, lebt den die Frau noch?“

„Also Sie haben schon dutzende Male die Sicherheitsvorschriften außer Acht gelassen und die Mitreisenden leichtsinnigerweise in höchste Gefahr bebracht? Über den Zustand der Verletzten bin ich vom Arzt noch nicht unterrichtet. Für Sie sieht die Sache jedenfalls recht böse aus.“

 „So schlimm wird es doch nicht sein. Ich habe vier Kinder und werde meine gute Stellung los, wenn das Werk etwas erfährt. Herr Vorsteher, können Sie denn nichts für mich tun; ich will ja für alles aufkommen.“

 „Hören Sie mal, Verehrtester, schämen Sie sich gar nicht Ihres hässlichen Benehmens? Erst quittieren Sie meinen Warnruf mit höhnischen Blicken, dann handeln Sie meiner Warnung bewusst entgegen und reißen eine Frau unter den Zug, weiterhin greifen Sie mich in Ausübung meiner Polizeigewalt persönlich an und stürzen mich die Steintreppe hinunter, zuletzt versuchen Sie sich der Verantwortung durch die Flucht zu entziehen. Jetzt winseln Sie wie ein feiger Junge. Haben Sie sich denn gefragt, was aus der Verunglückten, mir und unseren Kindern geworden wäre, falls wir das Genick gebrochen hätten? Da wollten Sie sich der Verantwortung feige durch die Flucht entziehen. Nun zeigen Sie sich wenigstens jetzt als Mann.

Lassen Sie die Angelegenheit an sich herankommen und nehmen Sie die Verantwortung auf sich.“

„Herr Vorsteher, was habe ich da bloß alles zu gegenwärtigen?“

„Das kann ich Ihnen ungefähr verraten. Sie haben sich wegen Bahnpolizeiübertretung, Transportgefährdung, schwerer Körperverletzung, Beamtenbeleidigung, Widerstand gegen die Staatsgewalt, Fluchtversuch und was der Staatsanwalt sonst noch herausfinden mag, zu verantworten, außerdem haben Sie alle gerichtlichen, sowie außergerichtlichen Kosten und etwaige Entschädigungen zu bezahlen und das alles wegen Ihrer bodenlosen Rücksichtslosigkeit gegen Ihre Mitmenschen.“

Mit der Beherrschung des Übeltäters ist es vorbei. Kopfschüttelnd sitzt er in zusammengesunkener Haltung vor mir. Weinerlich jammert er: „Herr Vorsteher, ich habe mir noch nie etwas zu schulden kommen lassen, bin vollkommen unbestraft und soll nun gleich so reinschlittern? Helfen Sie mir doch aus der bösen Sache raus. Mich muss ja der Teufel geritten haben, dass ich mich gegen Sie ur Wehr setzte. Verzeihen Sie mir bitte, ich war vor Aufregung ganz von Sinnen. Ich will alles wieder gut machen, es ist eine furchtbare Lehre für mich. Wenn Sie auch in mir einen feigen Menschen sehen, ich bitte für meine Familie. Raten Sie mir doch wenigstens, wie ich die Folgen meiner Handlung mildern kann.“

 „Die größte Reue lässt Geschehenes nicht ungeschehen machen. Verdient haben Sie keine Rücksichtnahme; Sie sind selbst ein ganz rücksichtsloser Mensch. Trotzdem will ich Ihnen mit Rücksicht auf Ihre Familie folgendes erklären:

Die Anzeige wegen Bahnpolizeiübertretung kann ich mit Rücksicht auf die schweren Folgen nicht zurückhalten, vielleicht kann ich Ihr reumütiges Verhalten als strafmildernd anführen. Ich gebe Ihnen die Adresse der Verletzten. Setzen Sie sich mit der Frau in Verbindung, bieten Sie ihr den Ersatz des Lohnausfalles und aller Unkosten an. Nach einigen Tagen begeben Sie sich zum entsprechenden Dezernenten der Reichsbahn und bitten dort um gut’ Wetter. Was weiter geschieht, müssen Sie abwarten. Meinerseits werde ich vorläufig von einer Anzeige wegen tätlicher Beleidigung und Widerstandes Abstand nehmen, falls die Verwaltung ihrerseits nicht darauf bestehen sollte. Dass Sie durch Ihr Verhalten alles andere als diese Behandlung verdient haben, wird Ihnen einleuchten. Beobachte ich Sie noch einmal beim vorzeitigen Aussteigen, dann gibt es keine Rücksicht mehr.
Sie können gehen.“

Der Reisende bedankt sich überschwänglich. Die Hand, die er mir beim Verlassen des Dienstraumes reichen will, übersehe ich geflissentlich.
Mit einer Bahnpolizeistrafe von zwanzig Mark, einer Entschädigung für die Verletzte und einer freiwillige Buße für Eisenbahnerwaisen ist der Schuldige im außergerichtlichen Verfahren sehr gnädig weggekommen.

Für einige Zeit war der Vorfall fühlbar belehrend auf die Fahrgäste eingewirkt....

Ehe ich meine Erlebnisse, insbesondere die auf der Eisenbahn, abschließe – ich könnte davon allein ein ganzes Buch füllen – möchte ich doch das tragischste aller Erlebnisse während meiner 35 Dienstjahre nicht unerwähnt lassen. Es soll den Lesern die große Verantwortung jedes einzelnen Bediensteten und die bösen Folgen von Unaufmerksamkeit und Ablenkung vor Augen führen. Zur besseren Verständigung muß ich etwas zurückgreifen.

Den für die Sicherheit des Betriebes auf einem Bahnhof verantwortungsvollsten Posten hat – was die Anordnungen zur mittelbaren Ausführung betrifft – der Fahrdienstleiter.

Es ist dies ein Bediensteter, der durch jahrelange Erfahrungen und praktische Prüfungen seine Befähigung für diesen Dienstzweig einwandfrei nachgewiesen hat. Er erteilt seine Anordnungen von einem Stellwerk aus. Auf größeren Bahnhöfen sind mehrere Stellwerke vorhanden, die jedoch unter der Befehlsgewalt des Fahrdienstleiters auf de Befehlsstellwerk zusammengefasst sind.
Nach einem solchen Befehlsstellwerk wurde ich eines Tages zur Information als Fahrdienstleiter abgeordnet.

 Wenn ich Telegraphenbüro und Telefonzentrale als das Nervenzentrum eines Bahnhofes bezeichnete, so muß das Befehlsstellwerk als dessen Gehirn angesprochen werden.
 Ich betrat dieses Befehlsstellwerk in einer frühen Morgenstunde des Berufsverkehrs. Ein Fahrdienstleiter, zwei Stellwerksmeister und ein Zugmelder bilden die dauernde Besatzung. Über einhundert Weichen-, Sicherungs- und Signalhebel, zwei Telegraphen- und acht Telefonapparate mussten überwacht und bedient werden, um den Betrieb pünktlich und ordnungsmäßig durchführen zu können. Sicherungswerkmeister befanden sich in der Nähe, um im Bedarfsfalle sofort beispringen zu könne....

 „Sekretär Jetschke zur Information als Fahrdienstleiter kommandiert“, meldete ich mich beim Fahrdienstleiter, einem bewährten Obersekretär. Ein Wink nach einem in der Ecke stehenden Stuhl war die ganze Antwort. Die Berechtigung dieser stummen Antwort konnte ich nach kurzer Beobachtung, soweit eine solche von meinem Platze aus möglich war, wohl verstehen. Aufmerksam verfolgte ich alle Anordnungen und deren Ausführung.

Um das Stellwerk bis weit auf die Strecke hinaus, zog sich ein Labyrinth von Gleisen, Weichen, Signalen und Sicherungseinrichtungen.

Dem Laien musste es unfassbar erscheinen, mit welcher Präzision und Schnelligkeit die Befehle des Fahrdienstleiters in die Tat umgesetzt wurden, wie ein scheinbar unentwirrbares Durcheinander entstand und sich doch alles auftragsgemäß glatt abwickelte.

Ein- Ausfahrten von Schnell-, Personen- und Vorortzügen, dazwischen Rangier-, Maschinen- und Kreuzungsfahrten über die Hauptgleise hinweg. Ein- und Aussetzen von Zügen und Maschinen, das alles wirkte fast sinnverwirrend auf den Beobachter. Das war kein schematisches Arbeiten. Jede Anordnung des Fahrdienstleiters, jeder Handgriff der Stellwerkmeister, jede Meldung des Zugmelders erforderten genaue anstrengende Gehirnarbeit. Hier ging es nicht um Minuten, hier ging es um Sekunden, sollte alles planmäßig verlaufen; und trotzdem arbeiteten alle Kameraden ruhig, überlegt und sicher.

Ich war überwältigt von diesen nervenanstrengenden Leistungen jedes Einzelnen und wagte für’s erste nicht, irgendwelche Zwischenfragen zu stellen, die die Kameraden von ihrem verantwortungsvollen Dienst ablenken mussten. Aber ich war auch erfreut über den Kameradschaftsgeist, der diesen schweren Dienst offensichtlich erleichterte. Einer machte den Anderen hilfsbereit auf etwaige Bedenken aufmerksam; auch dem Fahrdienstleiter als Befehlsgewaltigen gegenüber, herrschte keine Ausnahme. Der verantwortungsvolle Dienst forderte eben von selbst kameradschaftliche Zusammenarbeit.

War wirklich einmal ein Missverständnis entstanden oder hatte gar der Fehlgriff eines Bediensteten die Entgleisung eines oder einiger Wagen im Rangierbetrieb herbeigeführt, dann erwies sich die Kameradschaft erst richtig. Kein Wort des Vorwurfs wurde laut. Angestrengter, viel angestrengter als sonst, musste dann umdisponiert, angeordnet und ausgeführt werden, um den in’s Stocken gekommenen Betrieb baldmöglichst wieder auf volle Touren zu bringen. Den ‚Schuldigen’ galt dann nur das Bedauern und Mitempfinden jedes Einzelne, dem morgen dasselbe zustoßen konnte. Alle waren heilfroh, wenn bei solchen Unfällen kein Schwerverletzter oder gar Toter zu beklagen war, weil sonst der Staatsanwalt in die Ermittlungen eingeschaltet werden mußte. Wäre dieser Fall wirklich einmal eingetreten, dann hätte jeder einzelne Bedienstete die stolze Gewissheit gehabt, dass der schwere und verantwortungsvolle Dienst im Urteilsspruch Gerichts seine volle Anerkennung gefunden hätte.

Solche Fälle kommen ausschließlich im Rangierbetriebe vor, Züge des öffentlichen Verkehrs sind bei einem Regelbetrieb durch technische Maßnahmen und Sicherheitsvorschriften vom Stellwerk aus gegen derartige Unfälle hundertprozentig gesichert.....

Der Berufsverkehr war vorüber, erst jetzt kam der Fahrdienstleiter dazu, sich gelegentlich auch mit mir zu beschäftigen, ohne von seinem Dienst erheblich abgelenkt zu werdcn. Die Prüfung als Fahrdienstleiter hatte ich schon früher abgelegt. Eine Information, die der Übernahme eines dem Fahrdienstleiter fremdem Stellwerkes vorauszugehen hatte, musste ich noch durchmachen. Wenn man bedenkt, dass dieser Informationsdienst im Durchschnitt vier Wochen in Anspruch nimmt, um dem Fahrdienstleiter die selbständige Übernahme des Fahrdienstleiterdienstes zu ermöglichen, - zum ‚erstklassig geschulten Fahrdienstleiter’ auf einem schwierigen Großstadtbefehlsstellwerk sind im Durchschnitt ¾ Jahr selbständiger Dienst erforderlich – dann wird auch der Laie einen Begriff von den Anforderungen und Leistungen, die an einen Fahrdienstleiter gestellt und von ihm erwartet werden, bekommen.....

Die Informationszeit war beendet, ich hatte den Dienst als Fahrdienstleiter im Wechsel mit den Berufskameraden übernommen und, wie alle Kameraden, alle drei Wochen einen Tag Ablöserdienst als Aufsichtsbeamter auf dem Bahnsteig zu versehen.

Dieser Ablösetag war herangekommen, ich stand auf dem Bahnsteig und fertigte die Züge ab. Die Abfahrtszeit für den Personenzug nach Hamburg war herangekommen. Die Zustimmung zur Abfahrt hatte der Fahrdienstleiter des Befehlsstellwerks durch Fahrstellung des Ausfahrsignals gegeben. Die Türen waren geschlossen, der Zug vom Zugpersonal fertig gemeldet worden. Nochmals ein prüfender Blick über den Zug, dann nach der Uhr. Die Aufforderung zum Zurücktreten vom Zuge ertönt. Der Uhrzeiger springt auf die Abfahrtszeit, mit dem Befehlsstab gebe ich den Auftrag zur Abfahrt.

Wieder verlässt ein Zug, dicht mit Reisenden besetzt, die Hauptstadt. Reisende und Zurückbleibende winken sich letzte Grüße zu, wer weiß, auf welche lange Zeit. Der Zug ist in einer Kurve schon zur Hälfte den sehnsüchtigen Blicken der Zurückbleibenden entschwunden, da, ein scharfes Anziehen der Schnellbremsen, - ruckartig kommt der Zug zum Halten. Ich kann gerade noch das vorzeitige Zurückfallen des Ausfahrsignals auf seine Haltstellung beobachten. Eilig begebe ich mich durch die Kurve nach der Zugspitze, um mich beim Lokomotivführer nach dem Grund des Haltens zu erkundigen, da bleibe ich wie angewurzelt stehen; ich glaube meinen Augen nicht trauen zu dürfen, das in etwa 200 Meter Entfernung stehende, ca. zwölf Meter hohe Befehlsstellwerk ist wie vom Erdboden verschwunden -, durch einen Unglücksfall zusammengebrochen. Das ‚Gehirn des Bahnhofs’ ist schwer verletzt, kein Fahrzeug bewegte sich. Es ist um die Personalablösezeit. Wie viel der unglücklichen Kameraden waren ur Zeit des Unfalls oben, wie viele mögen unter den Trümmern liegen? Es sind dies die ersten mitfühlenden Gedanken, die das Herz in Aufruhr bringen. Unter diesen könntest auch Du liegen, meldet sich das eigene Ich.

Der Zusammenbruch des Stellwerks löste sofort selbsttätig Sicherungsmaßnahmen aus. Die auf Fahrt stehenden Signale fielen auf Halt zurück. Für die Fahrgastzüge war also sofort jede Gefahr beseitigt. Schlagartig setzten die Rettungsarbeiten ein. Der Vertreter des verhinderten Dienstvorstehers übernahm sofort die Leitung und traf mit einem bewundernswerten Überblick die erforderlichen Anordnungen.

Noch keine zehn Minuten waren nach der Meldung ‚Menschenleben in Gefahr’ vergangen, als auch schon die Feuerwehr angerast kam und sich hervorragend an den Bergungsarbeiten beteiligte. Durch eine Kettenbildung von etwa 80 Mann der Eisenbahnwerkstatt wurde das Mauerwerk in erstaunlich kurzer Zeit abgetragen.

Wie in einem zerstörten Ameisenhaufen, wo jedes Tierchen einem unsichtbaren Befehlshaber beim zielsicheren Aufbau fieberhaft zu folgen scheint, wurde auch hier gearbeitet.
Inzwischen war der zum Stehen gebrachte Personenzug unter den nötigen Sicherheitsmaßnahmen in die Bahnhofshalle zurückgedrückt und die Reisenden nach dem Warteraum beordert worden.
Bei allem Unglück machen sich immer wieder Umstände bemerkbar, die die Härte des Unglücks mildern, so auch in diesem Falle. Die durch die Wahrnehmung der Katastrophe im letzten Augenblick auf das Podest geflüchteten Bediensteten wurden durch einen berstenden Pressluftkessel vom oberen Treppenpodest auf die Schienen geschleudert und kamen so mit dem Leben davon.

Ein Rangierer musste sein Leben lassen, ein Stellwerksmeister wurde schwer verletzt und konnte erst nach langer Zeit wieder Dienst, jedoch nicht auf einem Stellwerk, versehen, die übrigen Kameraden kamen mit schweren Schäden davon.

Was von den bei den Aufräumungsarbeiten tätigen Eisenbahnern wohl niemand geglaubt hatte; bereits in zwei und einer halben Stunde war das gesamte Stellwerk abgetragen. Der Personenzug konnte unter den nötigen Sicherheitsvorkehrungen seine Fahrt antreten. Jeder der an den Rettungsarbeiten beteiligten Bediensteten war auf diese Leistung stolz. Anerkennende Blick und Worte folgen dem noch jungen Leiter der Rettungsaktion.

 Es war in den fünfunddreißig Jahren meines Eisenbahndienstes das tragischste Erlebnis. Verschiedene der treuen Kameraden, die seiner Zeit den Unfall überstanden haben, ruhen bereits unter grünem Rasen.


 Jahre waren inzwischen vergangen, in der Familie hat sich so manches umgestaltet und die Zeit ging nicht unbemerkt an uns vorüber.
 Das alte Sprichwort ‚jeder Mensch ist seines Glückes Schmied’ ist nur berechtigt. Leider musste ich das auch an mir selbst erfahren.

 Durch einen bis zur Selbstsuggestion gesteigerten starken Willen und zielbewusste Arbeit hatte ich mir mein Glück geschmiedet. Nur selten fällt es ja den Menschen unverdient in den Schoß. In jedem Falle hält es jedoch nur so lange vor, wie man sich dieses Glück zu sichern weiß. Wie viele der so bedachten Menschen lassen sich vom Glücksrausch betäuben und merken kaum, wie Ihnen das Glück entschwindet.
Auch ich habe mir mein Glück, soweit es die Häuslichkeit betrifft, nicht immer so zu erhalten gewusst, wie das erforderlich gewesen wäre. Ich war nicht stark genug, das mir auferlegte Schicksal zu tragen. Die Folgen dieser Schwäche machten sich später seelisch recht bemerkbar und werden bis zum letzten Tage an mir zehren...
 Meine liebe Berta, die bis zum fünfzigsten Lebensjahre vor Gesundheit strotzte, war in die teilweise recht leidensvollen Wechseljahre gekommen, die sich auf ihren Gesundheitszustand schwer auswirkten. Nichts konnte ihr recht gemacht werden, alles regte sie unglaublich auf, trotzdem beherrschte sie sich musterhaft und trug ihr Leiden für sich.
Man merkte ihr an, sie war sich selbst im Wege und sich selbst zu viel. Nicht einmal eine Freude konnte man ihr bereiten, sie wies alles entschieden ab und verlor jedes Interesse am Leben. Wenn sie auch schon immer – wie jeder Mensch – ihre Eigenheiten hatte, die Wechseljahre steigerten diese Eigenheiten zu einer schweren melancholischen Krankheit, die ihr den Fortschritt der Zeit nicht begreifen ließ.

 Die älteste Tochter hatte die in hohem Alter stehenden Großeltern acht lange Jahre treu und aufopfernd gepflegt und sich während dieser Zeit in einen strebsamen, tüchtigen Menschen verliebt. Das hatte eine krankhafte Erregung der Mutter wachgerufen, die, wie viele Mütter, die so eifersüchtig überwachte Liebe der Mutter zu verlieren glaubte. Ich musste oftmals energisch auftreten, um die Kranke aus ihrer schweren Eigenbrödelei wachzurufen. Das verursachte mir mehr weh, als meiner Berta selbst.

Das Leben schreitet nun einmal weiter und lässt sich durch Menschen und Menschenschicksale nicht aufhalten.
Der Sohn hatte sich einige Ersparnisse zurückgelegt und gedachte sich ein Geschäft einzurichten. Als er mit diesem Wunsche und der Bitte um Unterstützung an uns herantrat, gab es wieder schwere Zeiten. Es war wohl weniger der Gedanke an die geldliche Unterstützung, die ich unserem Ältesten zukommen ließ, als die Befürchtung, nun auch noch den Sohn aus ihrer Fürsorge geben zu müssen, die der Mutter neue Aufregungen brachte.

Die Beschaffung einer Aussteuer für Charlotte und eines für die damalige Zeit nennenswerten Betrages für die Geschäftseinrichtung unseres ‚Einzigen’, hatten meine Barmittel und Kreditfähigkeit erschöpft. Die mir aufgebürdete Arbeitsüberlastung bei der Einrichtung und während der ersten Zeit der Inbetriebnahme des Geschäftes, neben dem schweren Tag- und Nachtdienst bei der Eisenbahn und nicht zuletzt selbst verschuldete eheliche Sorgen führten auch bei mir zu einem Nervenzusammenbruch, den ich jedoch infolge meines allgemeinen Gesundheitszustandes und meines Lebenswillens bald überstand.

Der Gesundheitszustand meiner lieben Berta wurde jedoch mit der Verschlechterung eines schweren Frauenleidens immer bedenklicher, trotzdem durfte kein Arzt zu Rate gezogen werden, lieber wollte meine Frau zum Fenster hinaus springen.

Endlich gelang es meinem und meines Sohnes Zureden, dass sich die schwerleidende Mutter einer tüchtigen Ärztin anvertraute. Eine Operation war erforderlich. Nach einem guten Verlauf dieser Operation hielt die Ärztin auch eine wesentliche Besserung des Allgemeinzustandes für wahrscheinlich.

Schwere Tage und Nächte folgten, bis sich meine bedauernswerte Kranke zu dem Entschluss einer Operation durchgerungen hatte. Eines Tages brachte ich sie nach dem Krankenhaus. Beim Aussteigen bemerkten wir vor einem zweiten Portal einen Leichenwagen, die Pferde mit schwarzen Trauerdecken und Stutzen versehen. Dieser unerwartete Anblick wirkte verständlicherweise deprimierend auf meine schwerkranke Berta und sie bat herzlich: „Bringe mich wieder nach Hause, ich will in Euren Armen sterben.“ Blutenden Herzens, mit verkrampften, schmerzverbissenen Gesichtszügen, ein Aufschluchzen unterdrückend, wandte ich alle Beruhigungsversuche an, um sie dem ärztlichen Ratschlag doch noch gefügig zu machen.

Ich wurde innerlich etwas ruhiger, als ich mein liebes Weib in dem sauberen Bett sah und unter ärztlicher Obhut wusste. Die Tür des Krankensaales hatte sich jedoch kaum hinter mir geschlossen, als die erlösenden Tränen über meine Wangen liefen.

Trotzdem war ich voller Hoffnung, hatte ich doch bereits einmal meinen lieben Jungen und Stammhalter im vielversprechenden Alter von zehn Jahren zur Operation in das Krankenhaus einliefern müssen. Dazumal hatte ich mit meiner lieben Berta zum ersten Male in unserem Leben gemeinsam vor dem leeren Bett unseres Sprösslings gekniet und einem Herrgott tiefempfundene heiße Gebete von tränenbenetzten Lippen um die Erhaltung unseres Erdenglücks entgegengebracht.

Unsere Bitte ging in Erfüllung. Mit dieser Rückerinnerung an den Glauben und das geduldige Ausharren unseres Bertholds, hatte ich vor wenigen Minuten die Mutter gestärkt; ich richtete mich auch selbst daran wieder hoch.

Sechs Wochen hatte Muttchen schwer gelitten und war glücklich, als ich ihr die voraussichtliche Entlassung kommenden Sonntag in Aussicht stellte.

Ein Erlebnis, dass die Patientin trotz ihres schweren Leidens zu überstehen hatte und von dem sie bis zu ihrem fünf Jahre später erfolgtem Ableben gepeinigt wurde, vertraute sie mir am Tage ihrer Rückkehr aus dem Krankenhause an. Ich werde diese, einer Schwerkranken von einem ‚Geistlichen’ angetane erpresserische Seelenpein nie vergessen.

Wir waren verschiedener Konfession, beide jedoch liberaler Gesinnung und stimmten in den Fragen des Religionswesens und ihrer politischen Bedeutung überein. Meine Frau fühlte sich durch ein Vergehen ihres ‚Beichtvaters’ aus der Schulzeit, der dann einem ‚Herzschlag’ erlegen war, nicht mehr an ihre Kirchenpflichten, besonders nicht mehr an eine Beichte, gebunden. Sie war daheim auf ihre Art fromm.
Schon vor der Operation wurde meine Frau von den katholischen Schwestern zur Beichte ermahnt. Sie lehnte mit der Begründung ab, dass ihr ein Mensch, auch wenn er Pfarrer sei, die Sünden nicht vergeben könne, auch wenn er Pfarrer sei, die Sünden nicht vergeben könne; das müsse sie mit ihrem Gewissen und mit ihrem Gott allein abmachen. Sie fühle sich auch zu schwach, einer kirchlichen Handlung folgen zu können.

In jedem Stadium der Krankheit versuchten Pfarrer und Schwestern erneut, ihren Einfluß auf die Schwerkranke geltend zu machen, bis sie mir von diesen Belästigungen, die sie trotz ihres schweren Leidens über sich ergehen lassen musste, einige Tage vor ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus Mitteilung machte und mich um Rat befragte.

 „Liebe Berta, Du kennst ja unsere Stellung zur Religion und hast volle Handlungsfreiheit. Wenn Du hoffst, eine innere Erleichterung zu finden, dann gehe ruhig zur Beichte, ich möchte Dich bald vollkommen gesund wiederhaben.“

Wenn ich etwas zu beichten habe, dann bist Du mir der Nächste dazu, das habe ich auch der Schwester gesagt. Diese gab ihr darauf zur Antwort, dass meine Mischehe und die Erziehung meiner Kinder im evangelischen Glauben schon eine Todsünde sei, die den Verlust der ‚Ewigen Seeligkeit’ nach sic ziehen müsse.

„Strenge Dich mit solchen Gedanken nicht unnütz an, Mädel. Wenn sie Dir zu viel zusetzen, dann tue ihnen den Gefallen. Die Schwestern haben Dich treu gepflegt, sie haben ihre Freude an dem Erfolg ihrer Bemühungen. Sag’ dem Pfarrer, dass Dein evangelischer Mann auch kein Verbrecher und nach seiner Art gottgläubig sei.“

 Ich verabschiedete mich herzlich von meiner in Seelennöten befindlichen Schwerkranken und konnte ihr Versprechen, sie in drei Tagen, allerdings auf ihre eigene Verantwortung, zu uns zurückzuholen.
 Der von meinem schwer geprüftem Weibe so sehr ersehnte Tag der Rückkehr war herangekommen. Ein bekränztes ‚Herzlich willkommen’ prangte über der Tür, Blumen schmückten das trauliche Heim, das unsere Heimgekehrte mit einem tiefen Atemzuge der Erleichterung betrat. Sie musste fest liegen und bedurfte allergrößter Schonung. Nach einem stärkenden Schlafe fand sie ein gutes Mittagessen vor. Am liebsten hätte sie gleich wieder ihre Wirtschaft versehen, das konnte ich jedoch nicht zulasen. Soweit mir das bei meinem Dienst möglich war, besorgte ic die Hausarbeit mit.
 Wir saßen am Kaffeetisch, als meine Frau die letzten Tage im Krankenhaus schilderte.

„Die Schwestern hatten alles daran gesetzt, um m ich als unbußfertige Sünderin entlassen zu müssen,“ erzählte sie. „Die Kapelle konnte ich nicht aufsuchen, da mir das Stehen, Gehen und Sitzen zu schwer fiel. Sie fuhren mich in das neben dem Krankenzimmer befindliche Badezimmer, wo sich das Klosett befand, zur Beichte. Vor diesem Zimmer postierte sich eine Schwester für die Zeit der ‚Heiligen Handlung’.
Nach den üblichen Zeremonien stellte der Pfarrer unter anderem auch folgende Fragen: ‚Wann waren Sie das letzte Mal ur Beichte?’
‚Vor etwa dreißig Jahren.’
‚Sind Sie durch Ihr schweres Leiden, dass Ihnen der Herr auferlegte, nicht an die Kirche gemahnt worden?’
‚Ich bedurfte keiner Ermahnung an die Kirche, ich habe in meinem Heim Zwiesprache mit unserem Herrgott gehalten, so ungestört könnte ich das in der Kirche nicht.’
‚Hatten Sie denn nie das Bedürfnis oder Verlangen, ihr Gewissen durch die heilige Beichte zu erleichtern?’
‚Nein dieses Verlangen wurde mir durch meinen Beichtvater aus der Schulzeit verleidet. Dieser Pfarrer hatte sich die schwerste Sünde gegen eine Schulfreundin zuschulden kommen lassen, die nicht ohne Folgen blieb und starb dann, wie man sagt, an einem ‚Herzschlag’.

"Durch den Eingang einer Mischehe haben se eine Todsünde begangen, das war Ihnen doch bekannt?
"Nach dem sittlichen Gesetz habe ich keine Sünde begangen, wir beten zu einem Gott, Herr Pfarrer. Ist denn mein herzensguter Mann, weil er evangelisch ist, ein Verbrecher, ein Verbrecheraber, wenn er nur katholisch ist und seine Beichte abgelegt hat, ein Gott wohlgefälliger Mensch?"
‚Absolut nicht, nur ist diese ihre Handlung gegen die Gesetze der katholischen Kirche und muss ihre Sünde finden. Warum haben Sie Ihre Kinder nicht der katholischen Kirche anvertraut?’

‚Mein Mann ist der Erzieher und Ernährer meiner Kinder, er hat die Kinder im christlichen Glauben zu anständigen, herzenslieben Menschen erzogen, so, dass wir stolz darauf sind. Ich bin überzeugt, meine Kinder konnten im katholischen Glauben auch nicht besser erzogen werden.’

‚Nun sagen Sie, wollen Sie nicht dahin wirken, wenigstens Ihre elfjährige Tochter dem katholischen, also ihrem Glauben, zuzuführen? Sie haben, wie Sie selbst sagen, einen herzensguten Mann, dann wird er Ihnen in Ihrem Krankheitszustande auch diese Bitte nicht abschlagen.’
‚Was wäre wohl der katholischen Kirche mit dem Übertritt meiner Tochter gedient?’
‚Frau Jetschke, diese Frage ist leicht zu beantworten. Ihre Tochter geht später eine Ehe ein, der Kinder entsprießen. Diesen Kindern ist, nach dem Gesetz des Menschwerdens, das gleiche beschieden und so weiter. Das sind nach Jahren hunterte von Menschen und tausende von Kirchensteuern, die der katholischen Kirche verloren gehen. Die katholische Kirche ist aber ein Staat für sich und wie jeder andere Staat auf seine Einnahmen angewiesen, das ist Ihnen doch verständlich?’

‚Das ist mir nur allzu verständlich. Hier wird der „Götze Mammon“, der nach den Lehren der Kirche den Teufel in sich birgt, zum Erhalter der Kirche. Ich bin meinem Manne schon dankbar, dass er meine Steuern für die katholische Kirche widerspruchslos aus seinem Einkommen bezahlt, soll ich ihm auch noch die Tochter und den Kindern die Schwester entfremden? Über die Religionsfragen war ich mir mit meinem Manne schon vor der Ehe einig; in diesem Sinne habe ich meinem Manne schon vor dem Altar die Treue geschworen, und ein Eid ist heilig, Herr Pfarrer.’

‚Frau Jetschke, Sie müssen sich als gläubige Katholikin, die Sie nun einmal sind, wieder mehr der Kirche einfügen, Beichte und Abendmahl regelrecht besuchen, sich jedes intimen Gespräches und Verkehres mit Ihrem Manne entziehen und immer wieder versuchen, Ihre Kinder, wenn auch erst nach deren Volljährigkeit dem katholischen Glauben zuzuführen.’....“

Vom Erzählen war meine arme Berta sehr angestrengt, sie legte sich hin. Am Morgen erst hatte man ihr die Beichte abgenommen. Ich war über solch ‚segensreiches Wirken’ eines katholischen Geistlichen, einer Schwerkranken gegenüber, innerlich sehr verbittert und nahe daran, dem Direktor des Krankenhauses und dem ‚Seelsorger’ ein geharnischtes ‚Dankschreiben’ über die unverschämte ‚Klosettbeichte’, als das ich diese Handlung nur bezeichnen konnte, zuzusenden. Auf die herzlichen Bitten meiner sowieso schon gepeinigten Frau nahm ich jedoch Abstand davon.

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Als das Schicksal, das so viele Menschen als unabwendbar bezeichnen, einschneidend in unser Leben griff, hatten wir bereits den größeren Teil unseres Erdendaseins hinter uns gebracht. Schon einige Jahre vor dieser Krise hatte mein liebes Weib – von mir noch unbemerkt – seelische Kämpfe u bestehen, die bedauerlicherweise eine innere Entfremdung aufkommen ließen. Diese Entfremdung musste ich zum wohl nicht geringsten Teil mir selbst zuschreiben. Ich war zu herrisch und selbstbewusst, ließ Schwächen andere nicht gelten und verstand nicht, in der Seele einer Frau u lesen. Dabei glaubte ich, nicht schlecht zu sein. Ich war gesund, meine arme Berta schwerleidend -!

Wäre es wohl anders geworden, wenn ich nach Einsicht meiner teilweisen Schuld noch einmal am Kreuzweg der Entfremdung zurück gekonnt hätte?

Seit ich mit Erschrecken du innerer Verbissenheit feststellen musste, dass die erpresste Beichte und der ‚Zuspruch’ des katholischen Pfarrers meine arme Krane vollkommen umgewandelt hatte, war meine zur Schau getragene Ruhe dahin. Wie oft habe ich mich zu Bekannten oder in die Einsamkeit des alten Pankower Parks geflüchtet, um Ruhe vor mir selbst zu finden. Mit den Bekannten verband uns ein schon fünfundzwanzig Jahre bestehender herzlicher Familieverkehr, Freud und Leid wurde gemeinsam erörtert und getragen. Dort fand ich fast durchwegs Zustimmung für meine Einstellung in Familienangelegenheiten und Anregungen für mein Vorwärtsstreben im Dienst. Kamen mir dennoch Bedenken über den mehr und mehr schwindenden inneren Frieden, so begab ich mich in den verschwiegenen Park, um ungestört meinen Gedanken folgen zu können. Dieser Ur-Park mit seinen jahrhundert alten Baumriesen, den künstlerisch eingestreuten Unterholzgruppen und der sich in vielen Windungen durchschlängelnden Panke mit den versteckt liegenden Übergängen, auf der sich Wildenten zahlreich tummelten war so recht zum Träumen geschaffen.

Auf einem Hügel war ein Plätzchen, von dem man einen wunderbaren Überblick über den malerischen alten Park hatte. Zwischen Baumgruppen, halb versteckt, lugte das einfache Schloß der wenig glücklichen Königin Ernestine – Christine – hervor. In diesem Schlosse hatte die Gemahlin des ‚Großen Königs’ einen erheblichen Teil ihres Lebens verbracht, während ihr Gemahl auf Schloß Sanssouci dominierte. In diesem Park, auf diesem Hügel, hatte die Verbannte stets eine Schar Kinder um sich, denen ihr liebendes Herz zuwandte und denen sie u Ostern persönlich Eier versteckte. Hier war ihr ‚Sanssouci’ (ohne Sorgen). Hier mochten schon tausende, gleich mir, Ruhe vor ewiger Bedrängnis gesucht haben.

 Hereinbrechende Dämmerung, rauschende Baumkronen und eine heilige Stille fordern hier ein Insichgehen, dem sich auch der Gleichgültigste nicht entziehen kann. Von hier aus trat ich oft seelisch erleichtert den Heimweg an, und ich hatte das beruhigende Empfinden, als wenn etwas unbekannt Großes mir wohltuende Absolution erteilt hätte.....

Unsere Kinder Berthold und Charlotte waren verheiratet. Zwei allerliebste rüplige Gärtnerbuben hatten sich als Enkel eingefunden. Die Familie war größer und dabei doch kleiner geworden. Zu Hause verblieb neben mir noch die Schwerkranke und Elfriede, die noch zur Schule ging und ihr alles geworden war. Muttchen wollte niemand mehr um sich sehen. Ich durfte weder eine Hausgehilfin noch eine Aufwartung annehmen. „Fremde sollten sich nicht an ihrem Leiden erfreuen!?“, erklärte meine bedauernswerte Berta, selbst die Angehörigen mochte sie nicht dauernd um sich haben. Ich wollte sie einige Male nach dem schönen Park zur Erholung fahren, fand jedoch die gleichen Ablehnungsgründe. Ich hatte meinen schweren Tag- und Nachtdienst und die Hauswirtschaft zu versehen. Mutter duldete nicht, dass ihre Jüngste sich mit Hausarbeit beschäftigte, sie sollte ‚ein besseres Leben als ihre Mutter’ haben. Mit solch’ krankhaften Gedankengängen beschäftigte sich meine bedauernswerte liebe Frau. Ich hatte es schwer, sehr schwer, aber auch das Leiden unseres lieben Muttchens trat stärker auf: Die Operation hatte nicht die erhoffte Wirkung gehabt, der alte Zustand trat wieder ein. Das dauernde Liegen war meiner Berta unerträglich geworden.

Eines Tages ging meiner lieben Kranken aber doch die Geduld aus. Von der Chaiselongue, die ihre dauernde Liegestatt geworden war, konnte sie das ganze Zimmer übersehen und stellte die ‚Notwendigkeit’ der Teppichreinigung fest. Kranke denken sehr viel und so kam sie auf den unglücklichen Gedanken, nur schwere Arbeit könne ihr helfen und sie wieder gesund machen. Kurz entschlossen quälte sie sich auf, rollte mit ihren schwachen Kräften den großen Veloursteppich, den sonst der Pförtner zu reinigen pflegte, zusammen, schleppte diesen eine Treppe abwärts nach dem Hof und klopfte und bürstete drauf los. Dann quälte sie sich den Teppich wieder auf die Schulter, um ihn wieder in das Zimmer zu schleppen.

Das war für den geschwächten Körper zu viel, sie brach zusammen., musste auf ihr Lager gebracht werden und sollte es nicht mehr verlassen.

Als ich vom Dienst nach Hause kam, gestand mir meine arme Frau ihre leichtsinnige Handlung. Sie war schwer zu Schaden gekommen. Vier der leidvollsten Monate folgten. Vollständig siech gab sie nach ernste Vorhaltungen zu, dass wir ihre Nichte Maria aus ihrer Heimat zu Pflege heranholten. Dieses Mädchen war für die Kranke ein Stück Heimat, sie tat ihrer Tante alles zugute und pflegte sie aufopfernd. Bald war sie ihr unentbehrlich geworden.

Das Schlimmste war trotz aufopfernder Pflege nicht mehr aufzuhalten. Eine Tages, meine Berta hatte wieder einmal schwer aushalten müssen, leistete ich ihr tröstenden Beistand. Da umschlang sie mich, seit langen Jahren das erste Mal, herzlich und bat unter Tränen, die ich bisher an ihr nicht kannte, um Verzeihung für alles Böse, was sie mir bisher habe antun müssen. „Habe auch herzlichen Dank für die aufopfernde Pflege“, sagte sie, „ich spüre, dass ich von Euch gehen muss. Sei unserer Elfriede kein zu strenger Vater, morgen ist ihr Geburtstag.“

Erschöpft fiel sie auf ihr Lager zurück. Nach besten Kräften beruhigte ich meine Berta und nahm alle Schuld, soweit überhaupt von einer solchen gesprochen werden konnte, auf mich.
„Das Leben hat uns unseren Weg vorgeschrieben, liebe Berta, alles was es uns an Freud’ und Leid gab, haben wir durch unseren Fleiß errungen. Wir wollen versuchen, das Leid zu vergessen, vielleicht ist uns doch noch ein gemeinsamer Lebensabend beschieden.“

Am Abend desselben Tages mussten wir unser Muttchen in das Krankenhaus bringen, wo sie sich noch einmal zu erholen schien. „Morgen hat unsere Elfriede Geburtstag“, erinnerte sie mich noch einmal, „kaufe ihr einen schönen Mantel mit Pelzkragen, wie sie sich ihn gewünscht hat. Meine letzte Bitte aber ist, lass mich christlich beerdigen.“ „Maria, die Pflegerin, und ich verabschiedeten uns. Ich hatte noch ein mal Hoffnung auf Erhaltung ihres Lebens und ahnte nicht, dass es ein Scheiden für immer sein sollte. Am Geburtstag ihrer Elfriede schloss eine tapfere treue Frau und Mutter, die in Arbeit und Entsagung ein Familieglück aufbauen half, für immer ihre lieben Augen. Vergessen war der Missklang der letzten Jahre. Erst jetzt wurde mir bewusst, was ich an meiner Verstorbenen verloren hatte. Die Kinder bilden das wertvolle Vermächtnis für mich.

 Ein schöner klarer Wintertag war es, vier Tage vorm Heiligen Abend, als wir unsere liebe Verstorbene unter den Zeremonien ihres Glaubens zur letzten Ruhe bestatteten.

 Am Heiligen Abend schmückte eine Tanne das Zimmer, das Bild unseres lieben Muttchens stand darunter. Für uns waren es stille heilige Stunden, in denen wir den langen Weg, den wir mit unserer in aller Ewigkeit ruhenden lieben Entschlafenen auf dieser Erde durchwandeln durften, noch ein Mal an uns vorbeiziehen ließen. Sie ist nicht gestorben, in uns lebt sie weiter bis an unseres Lebens Ende.

* * * * * * * * * * *

Das Leben gehört den Lebenden wurde mir oft mahnend zugerufen, wenn ich ersichtlich grübelte und den Kopf hängen ließ, es stellt ja auch unentwegt seine Forderungen an den Menschen.

Kam ich vom Dienst nach Hause, dann hatte die zwanzigjährige Nichte Maria wohl alles in bester Ordnung – es war eine tüchtige Haushilfe – aber Muttchen fehlte ihr doch, obwohl sie jahrelang wenig oder nichts arbeiten konnte. Elfriede war in der kaufmännischen Lehre und musste mit betreut werden.

Versuchte ich mich irgendwie abzulenken und stieß dabei unvermutet auf Hinterlassenschaften meiner Verstorbenen, dann wurde ich innerlich gepackt. Jedes harte oder auch nur mahnende Wort, das im Leben meiner Berta gegolten hatte, stand anklagend vor mir. Jede Selbstberuhigung mit dem Schicksal oder mit den Schwächen anderer halfen mir nicht darüber hinweg.

Jetzt, wo die Entschlafene in kühler Erde ruhte, machte ich nur meine eigene Schwäche für alles Vergangene verantwortlich und wollte nur an meine Schuld glauben.

Den schweren Existenzkampf, den es im ersten Jahrzehnt unserer Ehe durchzufechten galt, hatte die Verewigte unter großer Aufopferung, Entbehrung und in großer Geduld treu an meiner Seite durchgehalten. Das hatte ich mir bereits bei Lebzeiten meiner lieben Berta in bewegten Stunden immer wieder sagen müssen. Dazumal schien mir das selbstverständlich, heute dachte ich anders darüber.

Diese und ähnlich schwerwiegende Gedanken und Vorwürfe machte ich mir immer von neuem. Sie zehrten in Verbindung mit de aufreibenden Dienst dermaßen an meiner Gesundheit, dass eine Erholungskur dringend erforderlich wurde.......

Im Taunusgebirge liegt auf bewaldeter Höhe ein ehemaliges Schloß. Von hier aus hat man einen fesselnden Rundblick in die Umgebung von Königstein.

Herrliche Ausflüge auf stillen Waldwegen nach dem Feldberg, dem in einer Talsenke idyllisch gelegenen Städtchen Kronberg, dem berühmten Bad Soden und den sonstigen, wie aus einer Spielzeugschachtel aufgebauten, zerstreut liegenden Ortschaften, sind so recht dazu geschaffen, die Sorgen zu vergessen und die Nerven zu entspannen. Dieses Schloß hat die Reichsbahn für einen Millionenbetrag für im Dienst beschädigte und von langer Krankheit genesende Arbeitskameraden eingerichtet.
Es ist das heutige Taunusheim.
Zu der mit einer Drehtür versehenen und mit einem gläsernen Vordach überbauten Haupteingang führt die Anfahrt durch einen mit Wiesenblautannen gezierten Vorpark. Hat man sich in das Innere des Heims ‚hineingedreht’, befindet man sich in einer mit Fliesen ausgelegten und mit dicken Läufern versehenen großen Vordiele. Moderne, rot lackierte Stahlrohr- und andere bequeme Möbel, von Palmen und Blumenarrangements geschmackvoll umkleidet, fordern geradezu zum Ausruhen auf. Ein Portier empfängt die Neuankömmlinge und sorgt für die Überbringung des Gepäcks vom Bahnhof auf das bereitgehaltene Zimmer. Eine vollständige in Marmor gehaltene, etwa 3 m breite Treppe, von kunstvollen Marmorsäulen gestützt und von Ballustraden in gleichem Material wirksam unterbrochen, führt in die langen Korridore der einzelnen Etagen. Auch Treppen und Flure sind mit dicken Veloursteppichen und Läufern bedeckt. Ein fast lautloses Treppauf und Treppab schafft wohltuende Ruhe.

In dem etwa 20 qm großen Zimmer, das ich mit einem Arbeitskameraden aus Hamburg teile, befinden sich unter anderem zwei weißbezogene gute Betten, ein Schreibtisch, der durch einen einzigen Griff in einen Frisiertisch verwandelt wird, ein Chaiselongue und ein geräumiger Schrank für Kleidung und Wäsche. Fließendes warmes und kaltes Wasser und sogar Lichtschaltung vom Nachtlager aus, verbürgen größte Bequemlichkeit der Erholungsbedürftigen. Die vorhandenen Bäder und sanitären Einrichtungen sind luxuriös und mustergültig.

Im Parterre befindet sich ein schöner Musiksaal, ein Billard- und Rauchzimmer, ein Damenzimmer, ein Schreib- und Lesezimmer, ein gut gepflegter Wintergarten mit Tischtennis, zwei große, für dreihundert Gäste berechnete Speisezimmer, eine dem Wald gegenüberliegende Veranda zur Einnahme des Nachmittagskaffees mit etwa auf Besuch befindlichen Angehörigen und die schon erwähnte Vordiele für etwa fünfzig Personen. Alle diese Räume wirken mit ihrer geschmackvoll einfachen Einrichtung vornehm und beruhigend auf die Besucher. Ganz besondere Sorgfalt ist auf die Bewirtung der Gäste gelegt. Wer nicht gerade zur Diätkost gezwungen ist, könnte sich im Taunusheim auf dem Wege in das Schlaraffenland fühlen.

Die Serviermamsells mit ihren schwarzen Kleidern, weißen Schürzen und Häubchen sind stets befleißigt, ihre Gäste individuell und zuvorkommend zu bedienen. Die Küchenaufsichtsschwester erscheint oft in den Speisesälen, wünscht hier und dort ‚guten Appetit’ und erkundigt sich nach der Schmackhaftigkeit der Speisen und dem persönlichen Wohlergehen.

Der ganzen Aufmachung des Heimes entsprechend ist auch die Hausordnung. Der Aufenthalt in den Gasträumen, auf Fluren und Treppen in nachlässiger Kleidung ist selbstverständlich unerwünscht und unstatthaft. Die Heiminsassen machen einen sonntäglichen Eindruck; der Abglanz dieses Sonntäglichen wirkt sich auch auf die Genesungssuchenden günstig aus. Es handelt sich durchweg um langjährige Bedienstete und Pensionäre, die hier volle Genesung, zumindest jedoch eine weitgehende Erholung von überstandenen Erkrankungen erhoffen.

Auch ich gehörte zu den dreihundert Pfleglingen, die im Frühjahr 1936 das Taunusheim beherbergte. Ein tragikomisches Ereignis gibt mir Veranlassung, meinen dortigen Aufenthalt besonders zu erwähnen. Das, was dort den erholungsbedürftigen Reichsbahnbediensteten geboten wurde, schien nach meinem bescheidenen Empfinden nicht allzu weit von dem täglichen Leben der oberen Hunderttausend entfernt zu sein. –

Wie in allen meinen Lebenslagen verfolgte mich mein Missgeschick auch hier. Für den Augenblick empfand ich es zwar unangenehm und peinigend, als Erinnerung entbehrt es jedoch nicht eines humoristischen Beigeschmacks.

In den ersten Stunden meines Aufenthalts in dem für mich feudalen Heim – ich war an einem späten Nachmittag angekommen – fühlte ich mich noch etwas unsicher. Um mich wohl zu fühlen und nicht aufzufallen, musste ich erst meine Selbstsicherheit zurückgewinnen. Ich studierte also zunächst einmal die Hausordnung sowie meine nähere Umgebung gründlich und ließ mich von meinem Zimmergenossen mit den sonstigen Gepflogenheiten im Heim bekannt machen. Die Zeit des Abendessens war herangekommen. Volltönende, tiefe Gongschläge luden dazu ein. Hunderte von Gästen begabe sich zu ihren Plätzen, während ich am Saaleingang wartete.

Der Speisesaal gleicht dem eines guten Hotels. Blendendes Weiß der für je vier Personen gedeckten Tische und der vorgesteckten Damastservietten, Silberbestecke, blitzende Nickelterrinen und nicht zuletzt der appetitanregende Duft der Speisen und das Arrangieren der garnierten kalten Platten machten, in Verbindung mit den zufrieden dreinschauenden, gut angezogenen Gästen einen feiertäglichen, wohltuenden Eindruck.
„Bitte, Sie sind heute erst angekommen?“, wurde ich von einer freundlich aussehenden Serviermamsell gefragt.
„Jawohl, Fräulein, Jetschke aus Berlin“, stellte ich mich vor.
Das Fräulein sah ihre Liste nach. „Wollen Sie mir bitte folgen?“
„Bitte, sehr gern, Fräulein.“
Wir schlängelten uns durch einige der Stuhlreihen; vor einem der Tische blieb die schmucke, freundliche Mamsell stehen.
„Meine Herren, ich bringe Ihnen einen neuen Tischgast, Herrn Jetschke, wollen Sie sich bitte miteinander bekannt machen, - allerseits gute Appetit.“
Flink und leichtfüßig enteilte die Bedienung.

 Nun ja, solche Vorstellungen wirken immer etwas störend bei Tisch, sind jedoch nicht zu vermeiden. Allgemeines Stühlerücken.
„Müller“
„Schmidt“
„Lehmann“

„Angenehm, meine Herren!“ Kurz und schmerzlos war die Vorstellung. Wieder befiel mich eine gewisse Unsicherheit.

 Zuerst taxierte ich kurz meine Tischgenossen, alles anscheinend altgediente Eisenbahner. Meinem Gegenüber zierte ein schmissiger Durchzieher über die linke Wange, Anzug modernster ‚Bauart’ mit tiefem Ausschnitt und tadellos weißer Oberwäsche, also Oberbeamter. Rechts von mir zweifellos Lokomotivführer, linkerseits verdienter Pensionär, also ‚bunte Reihe’.

 „Langen Se tüchtig zu, Kamerad Jetschke“, sagte einladend mein Gegenüber, „das Essen ist hier sehr gut und abwechslungsreich, wenn es alle ist, wird nachgereicht. Gut und reichlich essen, ist die beste Medizin für die Gesundung der Nerven.“

Eine Schüssel mit Klößen, eine Terrine Blaubeeren, eine Wurst- und Käseplatte, ein gefüllter Brotkorb, reichlich Butter, deckten neben anderen appetitregend den Tisch.

Allmählich erlangte ich meine Sicherheit wieder. Ich nahm mir zwei Füllkellen Blaubeeren auf den Teller, dann spießte ich, den Auftraglöffel hatte ich nicht bemerkt, einen schönen großen Kloß auf die Gabel, ohne die Schüssel herüberzunehmend, und versuchte, ihn auf den Teller zu balancieren. Den Kloß schien diese Behandlung zu beleidigen, so dass er seinen inneren Halt verlor. E machte sich selbständig. In zwei Teilen knallte er förmlich in die Blaubeerterrine hinein, den Inhalt rücksichtslos nach allen Seiten verspritzend.

Tischtuch, Serviette, Oberwäsche, Kragen und Gesicht meiner Tischgenossen boten einen bejammernswerten Anblick der Verwüstung. Ausgerechnet meinem Gegenüber mit dem tiefen Ausschnitt und der blütenweißen Wäsche war sehr mitgespielt worden. Einige Blaubeerspritzer hatten sich in dem Durchzieher der linken Wange vereinigt und waren darin herabgelaufen. Er sah aus, als wenn er frisch von der Mensur gekommen und noch nicht verbunden wäre. Ich wurde puterrot im Gesicht – ohne Blaubeeren – entschuldigte mich ob meiner Ungeschicklichkeit und gedachte mich ratlos vom Tisch zurückzuziehen. Da waren aber auch schon zwei Mamsells mit dem Servierwagen zur Hand, sprachen freundlich auf mich ein, deckten den Tisch schnell um und gaben neue Servietten heraus. Mein Gegenüber sah mir meine große Verlegenheit und innere Erregung an. Er fand trotz größter Mitleidenschaft noch beruhigende Worte für mich und sagte: „Herr Jetschke, nun wollen wir aber gut nachholen, sonst nimmt der Magen auch noch Schaden und das ist weit schlimmer.“

 Während des Essens habe ich keinen Blick mehr von meinem Teller gelassen. Wenn ich hochschaute, sah ich schuldbewusst die blaubeerbesprenkelten Hemdbrüste und Kragen meiner Tischgenossen vor mir. Dieser Anblick beschäftigte und beunruhigte mich noch wochenlang.

 Was mir angenehm auffiel, war das taktvolle Benehmen der Kameraden an den Nebentischen, die den Vorfall beobachte hatten, ohne eine Miene zu verziehen oder gar in Heiterkeit auszubrechen; man hätte das in dieser heiklen Situation und im Hinblick der ‚sommerbesprossten Leidtragenden’ trotzdem verstehen können.

 Als der am schwersten betroffene Reichsbahnrat X sich nach etwa vierzehn Tagen von uns Tischgenossen verabschiedete, meinte er auf meine nochmalige Entschuldigung: „Lieber Kamerad Jetschke, diese unangenehme Situation hat immerhin etwas angenehmes an sich. Unsere Tischkameraden werden, wenn sie schon längst wieder daheim sind, mit Humor an den wildgewordenen Kloß denken, im Familien- und Kameradschaftskreis diese Episode gern zum Besten geben und sich dabei unserer Tischgemeinschaft erinnern.

Nach weiteren vier Wochen verließ auch ich das Heim, in dem ich mich gut erholt hatte, in Richtung Heimat.
Auch bei der Heimreise widerfuhr mir ein kleines Missgeschick. Am ersten Osterfeiertag wollte ich mit dem 6 Uhr Frühzug der Privatbahn Königstein-Frankfurt zurückfahren. Die liebenswürdige Mamsell hatte mir versprochen, um ¾ 6 Uhr meine Reisebeköstigung bereitzuhalten. Um diese Zeit stehe ich also vor der Küchenausgabe – nichts rührt sich, tiefste Stille. Ich eile zum Etagentelefon und rufe den Pförtner an, das genügte, um sofort die Küchenbedienung zu mobilisieren. Warum sollte ich der stets freundlichen Mamsell am ersten Osterfeiertage nicht die Ruhe gönnen?
 „Fräulein, lassen Sie alles sein, ich werde unterwegs schon etwas zu essen bekommen, ich schaffe sonst den Zug nicht.“

„Den schaffen Sie bestimmt, der Pförtner ruft schon beim Bähnle an, dass Sie durch unser Verschulden nicht rechtzeitig rankommen können. Die Aufsichtsbeamten sind uns gegenüber sehr zuvorkommend und lassen den Zug so lange halten.

Der Hausdiener rast mit meinen Koffern vorweg, den Berg hinunter zu etwa zehn Minuten entfernt liegenden Privatbahnhöfle.
 Zur Abfahrtzeit verließ ich mit reichlicher Wegzehrung und einigen bunten Ostereiern versehen das herrliche Taunusheim. Vier Minuten nach der Abfahrtzeit landete ich, prustend wie die Kleinbahnlokomotive, auf dem Bahnhof.

"Hetzen Sie sich nicht so sehr ab, Kollege. Sie kommen schon noch zurecht,“ rief mir der Rotbemützte im gemütlichen Tone zu.
Ein kurzer Dank – einsteigen – abfahren.

Jetzt, wo ich im Ruhestand lebe, gedenke ich noch gerne dieser segensreichen Einrichtung der Reichsbahn für ihre Bediensteten.

 Nach einem Abstecher zur Taufe meines zweiten Enkelsohnes Wolfgang im Dom zu Merseburg, traf ich nach sechs Wochen wieder in meinem Berliner Heim ein.
Maria, die treue Pflegerin meiner Verstorbenen, war bei meiner Abreise nach dem Taunusheim in ihre Heimat zurückgekehrt.
Eine neue Hilfe wollte ich nicht mehr annehmen; meine sechzehnjährige Elfriede musste nunmehr auf eigenen Füßen stehen lernen. Ich versah neben meinem schweren Tag- und Nachtdienst die gesamte Hauswirtschaft mit ihr allein. Das ließ sich auf die Dauer natürlich nicht durchführen. Die Jugend will auch ihre Rechte haben und der Dienst meine volle Kraft.

 Zu irgend einem Entschlusse musste ich kommen, wollte ich mich gesundheitlich nicht ganz aufreiben. Eine Hausgehilfin - ?, das wollte sehr überlegt sein. Eine Wirtschafterin - ?, wo sollte ich eine solche Vertrauensperson finden, die ohne Nebengedanken diesen Posten übernehmen würde? Eine zweite Ehe eingehen - ? Kleine Kinder gewöhnen sich wohl bald an eine zweite Mutter; größere sehen in dieser nur allzu leicht eine Verdrängerin der Verstorbenen und überwachen eifersüchtig alle Handlungen der Pflegemutter, um den Vater nicht auch noch zu verlieren.

Wollte ich mir und den Meinen das so schwer erkämpfte Heim erhalten, dann musste ich mich doch wohl zu einer zweiten Ehe entschließen, so schwer es mir auch fallen mochte. Wer sollte meine Pflege übernehmen, falls ich älter und meine Elfriede verheiratet wäre? Schließlich entschloss ich mich doch für eine zweite Ehe; ich fiel dann bei einem späteren Siechtum wenigstens nicht den Kindern zur Last.

 Für die Jugend sind alte Menschen stets eine Last, auch wenn die Kinder noch so sehr an den Eltern hängen.
Die größte Sorge war nun: Wie komme ich zu einer all’ meinen Wünschen entsprechenden Frau?

Gesellschaften und Vergnügungen aufzusuchen, verbot mir der schwere Tag- und Nachtdienst, an passender Bekanntschaft fehlte es auch. Es blieb also nur noch der schon so alte Weg zur Gründung einer Vernunftehe übrig......

An einem Sonntag erschien in einer der viel gelesenen Berliner Tageszeitungen folgendes Inserat:

  Behördensekretär, 56/158
wünscht Ehebekanntschaft
mit anhangloser Vierzigerin
gleicher Größe.
Erforderlich volle Gesundheit,
gute Erscheinung,
vornehme Gesinnung,
Klavierspiel erwünscht.
Alleinige Wirtschaftsführung
ist Voraussetzung.
Bildzuschrift unter Postlagerkarte 32,
Berlin N 4 erbeten.
Vermittler und anonym: Papierkorb.
 

Wieder und wieder las ich die durch mich aufgegebene Anzeige und bekam es fast mit einer gewissen Angst vor deren Auswirkung zu tun....
Hell schien die Sonne am wolkenlosen Himmel. Das frische Grün leuchtete lockend zum Fenster herein; nichts vermochte mich von dem, was kommen musste und was ich ja auch gewollt hatte, abzubringen.
Ich ließ erst noch einmal alles Vergangene an mir vorüberziehen, was mir die erste Ehe gebracht hatte.
Wie hatte ich mit meinem Weibe gesorgt, gearbeitet und gelitten, mit welchen Schwierigkeiten unser Heim gegründet, bis es so dastand, wie ich es vor Augen hatte. Jetzt sollte es sich eine fremde Frau in dem so schwer erkämpften und daher so wertvollem Heim gemütlich machen? Kampf- und sorglos sollte einer Unbekannten das schwer Erkämpfte in den Schoß fallen? Bis zu ihrem Ende sollte sie keine Nahrungssorgen mehr haben. Würde das eine Frau überhaupt zu schätzen wissen?
Fort mit solch melancholischen Träumereien, die ja doch nicht den Tatsachen entsprechen. Die Frau setzt ja auch ihre ganze Arbeitskraft ein, sie sorgt sich um das Gemeinwohl der Familie, für sie gibt es keinen Acht- oder Neunstundentag. Jede Ehefrau, ob die erste oder zweite, ist ja leider das alleinige Arbeitspferd in der Familie---! Ist es nicht so, liebe Leser? Drum nochmals fort mit solch revoltierenden Gedanken; hinaus in den schönen Pankower Schlosspark - der Lebende gehört dem Leben - , auch ich lebe ja noch.
Acht Tage hatte ich vergehen lassen, ehe ich Nachfrage am Postschalter hielt. Der Schalterbeamte betrachtete mich vielsagend und vielfragend als er meine Lagerkarte entgegen nahm. Zwei gebündelte Pakete und einige lose Briefe reicht er mir heraus. Ich spüre, wie mir das Blut ins Gesicht steigt und verlasse schnell den ungewollten Ehevermittler.

Die Aktenmappe reicht für die Unterbringung der Briefe kaum aus; wie viel Glück versprechende und Glück heischende Briefe mögen es sein? Kann ich diese Flut von Zuschriften ohne Inanspruchnahme von Urlaubstagen bewältigen?

Daheim angekommen, schließe ich mich in mein Zimmer ein, obwohl ich allein bin. Erst schnell die Briefe durchzählen. –
Zweihundertdreizehn Briefe liegen vor mir, spricht das nicht eine Sprache für sich?
Ich werde mir plötzlich meines Wertes bewusst. ‚Eine von allen diesen Frauen soll das von ihnen vermutete Große Los treffen’ – vielleicht ist es noch eine größere Niete.

Ich konnte mich gar nicht in den Erfolg meines Inserates hineindenken, bis ich darauf kam, ich hatte jede Vermögensforderung unterlassen.
Vier lange Wochen habe ich hinter verschlossenen Türen Briefe sortiert, gelesen, beantwortet, Bilder zurückgeschickt, dazwischen den Haushalt besorgt, Zusammenkünfte getätigt, Dienst versehen, wieder Briefe erhalten und beantwortet. Monatelang zog sich die Entscheidung hin.
Einmal wurde ich trotz verschlossener Tür von meiner mit einem Schlüssel ausgestatteten Schwiegertochter überrascht, wie ich den Badeofen mit Liebesbriefen, die doch eigentlich eine besondere Glut entfachen entfachen mussten, anheizte. Wenn es für mich auch eine peinliche Situation war, meine Schwiegertochter schaltete sich resolut in die Beratungen ein. Die heikle Lage war damit gerettet.

So paradox es auch klingen mag, das Studium der Wunsch- und Sehnsuchtsbriefe war zwar eine Überanstrengung, wurde jedoch durch seinen teilweise grotesken Inhalt zu einer ablenkenden Erholung. Einige dieser teils drolligen und ungelenken, aber auch schönen Briefe, möchte ich – in diskretester Form – natürlich zur Erbauung der Leser wiedergeben:

1. Brief:

  Sehr geehrter Herr !
Wenn ich auch nicht allen Ihren Wünschen entspreche, so habe ich doch den Wunsch meinen Jungen, den ich unglückliches Menschenkind von einem verheirateten Manne bekommen habe, einen ehrlichen Namen zu geben.
Ich bin sechsundzwanzig Jahre alt, gesund und in der Lage einen Haushalt zu führen.
Ich habe wegen Ihre Alters keine Bedenken und würde mich Ihnen zeitlebens dankbar erweisen. Sie können sich bei meinen Eltern, zu denen ich nicht mehr kommen darf, über mich erkundigen. Ich wohne mit meinem Kinde ..... usw.
 

2. Brief:

  Sehr geschätzter Ehekandidat !
 Ich weiß, Sie bekommen sehr viel Briefe, auch verlockende. Legen Sie den meinen an den Schluß Ihrer Eingänge. Sie werden doch auf mich zurückkommen. Ich spiele gut Klavier; das Spielen ist geradezu meine größte Leidenschaft. Ich bin 52 Jahre, Ihre Wünsche gehen bei mir restlos in Erfüllung. Teilen Sie mir bitte mit, wann Sie mich in meiner gemütlichen Dreizimmerwohnung aufsuchen wollen.
Ich werde entsprechend umdisponieren, um Ihnen Ihre Lieblingskomponisten vorzuspielen. Sie werden diesen Abend nicht zu bereuen haben ---

Das Bild machte ebenfalls einen guten Endruck, der Besuch unterblieb dennoch.

 


3. Brief:

  Geehrter Herr Behördensekretär !
 Ich las Ihre Anonkse, auf die ich mich erlaube an Sie zu schreiben. Ich bin 39 Jahre, davon 14 Jahre in Stellung, wofon ich gute Zeugnisse habe.
Über 12000 Mark habe ich auf der Kasse. Ich mache alles alleine und möchte einen besseren Mann haben. Ich habe noch mit keinem Manne nicht, was gehabt, davon können Sie sich bei meiner Herrschaft erkundigen. Sollten Sie was brauchen, dann bin ich nicht so.
Ich habe in den vielen Jahren oft was bekommen und davon zurückgelegt um mal einen Beamten zu kriechen nach den ich mir schon lange sehne. Hoffentlich sind sie ein recht guter Mensch, weil ich schon mal 500 Mark bei einen Schwindler los geworden bin.
Meine Herrschaft habe ich versprochen nicht ohne Sie zu heiraten weil’s mir nicht wieder so gehen soll.
Am Sonntag habe ich Ausgang, hohlen sie mir von meine Herrschaft ab .....straße 17, Schlächterei usw.
 

 
Ein Bild lag nicht dabei. Nein, liebe Leser, ich habe den Brief nicht verworfen. Ich habe mir die Schreiberin zu einer Tasse Kaffee in die Konditorei Aschinger bestellt, schließlich gedachte ich auch etwas Menschenkenntnisse zu sammeln; wie musste ein so naives, älteres Mädchen wohl aussehen?

An einem schwülen Junitage wartete ich in der Konditorei Aschinger am Oranienplatz auf meine Naive, das Erkennungszeichen lag frei vor mir. Der Raum war angenehm kühl und nicht stark besetzt, so dass ich ein Plätzchen an einem der kleinen Marmortischchen im Hauptgang belegen konnte.

Eine halbe Stunde hatte ich schon vergeblich der Dinge gewartet, die da kommen sollten und wollte mich wieder entfernen, als ein ‚späteres Mädchen’ an das Tischchen herantrat und sich verschüchtert niederließ. Für die Erwartete sah sie mir zu adrett und intelligent aus, sie machte sich auch sonst nicht bemerkbar. Ein Erkennungszeichen für ‚Sie’ war nicht vereinbart.

 Zehn lange Minuten saßen wir so. Ihre Auge sprachen, der Mund blieb zu. Ich packte das Erkennungszeichen fort und schickte mich an, zu gehen, da sprach sie endlich: „Entschuldigen Se, Sie sind wohl der Beamte, der mir heiraten will.“

Ob die lieben Leser es glauben wollen oder nicht, mein Gesicht blieb ernst. Fräulein Ulkigs Frage überhörend gegenfragte ich: „Sie haben also doch Mut gehabt, Fräulein und sind allein gekommen?“ „Nein, meine Frau war mitgekommen, hat Sie beobachtet und ist dann gegangen; ich getaute mir nur nicht hier an den Tisch.“

 „Nun Fräulein Ulkig, Se machen mir in Ihrem Brief gleich so ein Angebot ‚wenn ich etwas brauchen sollte usw. Zu Ihrer Beruhigung will ich Ihnen sagen, ich brauche weder so, noch so etwas. Ich wünsche mir nur eine nette, fleißige Frau. Geld habe ich allein und eine sechzehnjährige hübsche Tochter auch.“

 „Ich habe Kinder sehr gern und arbeite von früh bis spät in die Nacht, nur Mittwochs und Sonnabends gehe ich abends in die Bibelstunde, das dauert etwa bis 10 Uhr. Das Mädchen würde ich gern mitnehmen, da würden Sie sich doch bestimmt freuen?“

„Natürlich, Fräulein Ulkig, das ist mir recht angenehm, an diesen Abenden habe ich meine Skatabende, das passt ja ausgezeichnet.“
Fräulein Ulkig, ganz entsetzt und energisch:
„So was lasse ich erst gar nicht einreißen. Kartenspiel ist der Untergang jeder Familie. Mein Erbteil von der Mutter und meine Ersparnisse würden dabei doch nur draufgehen. Sie müssen mir verstehen, man möchte doch vor seine Kinder sparen!“
„Ach, so, Kinder haben sie auch schon, Fräulein? Da hätte ich ja etwas Arbeit weniger.“

„Um Gottes Willen, mir ist noch keiner nicht zu nahe gekommen, das würde doch jeder Mann sofort merken!“
„Natürlich, man würde sie schon schreien hören, die Kinder, meine ich. Nun, sagen Sie mir doch einmal, würden Sie auch zur Bibelstunde gehen, wenn ich nicht Karten spielen würde?“
Fräulein Ulkig wird wieder aufgeregt.
„Da brauchen wir uns ja gar nicht erst zu unterhalten, ich bleibe meinen Bibelforschern treu, da ist gar nischt zu machen.“

Von einem Nachbartischchen hinter einer Säule hatte ich schon wiederholt ein leises Kichern gehört; ich musste also langsam Schluß machen.

„Das ist richtig von Ihnen Fräulein Ulkig, es ist ganz meine Ansicht. Wir haben uns kennen gelernt und auch gleich richtig verstanden.“
„Kellner, bitte zahlen!“
„Bitte, zweimal Kaffee und Kuchen, macht 1,60 inklusive 1,76 RM.“

Ich zahlte 1,80 RM und verabschiedete mich mit einem mitleidigen Empfinden von der frommen Selma. Sie ging trotzdem weiter neben mir.

 „Wollen wir denn gleich am ersten Tage so auseinandergehen? Ich meine es doch nur gut, und wenn Sie nicht hoch spielen, würden wir uns schon gut verstehen.“
„Sehen Sie, Fräulein Ulkig, ich spiele auch manchmal hoch“, sagte ich im Weiterschreiten zur Straßenbahnhaltestelle, „heute spielen wir bei einem Freunde, der wohnt im vierten Stock.“
Inzwischen bin ich an der Haltestelle angelangt und springe auf den in der Anfahrt befindlichen Wagen, von wo ich der verdutzt nachsehenden frommen Selma freundlich zuwinke.

Ich fahre nicht zur Skatpartie und kenne die Karten auch kaum. Ob Fräulein Ulkig nicht doch noch einen Mann für 12000 Mark bekommen hat?

4. Brief:

  Sehr geehrter Herr !
 Mit großem Interesse las ich Ihr Inserat. Ich wäre nicht abgeneigt, Ihre werte Bekanntschaft zu machen. Ich bin vierzig Jahre alt, gesund, von ansprechender Figur und spiele auch etwas Klavier. Zur Zeit betätige ich mich im Haushalt meines Onkels, des Pfarrers R. .
Bisher habe ich alle Möglichkeiten einer Ehe an mir vorbeigehen lassen, da ich nur eine Ehe eingehen möchte, die auf Achtung, Liebe und Gegenliebe aufgebaut ist. Ich glaube fest daran, dass solches auch auf diesem Wege möglich sein wird. Ich bin in der Lage, die Festigkeit einer Ehe mit einem kleinen Vermögen von etwa 17000 Mark zu untermauern. Ein Bild kann ich leider nicht beifügen. Ihrer gefl. Rückschrift sehe ich gern entgegen, bitte aber nicht anonym.
 

 Die Art des Schreibens rechtfertigte auch einen Versuch ohne Bild. Also musste wieder einmal das bewusste Buch im grünen Umschlag die Bekanntschaft vermitteln. Dieses Mal war es der Erfrischungsraum eines großen Berliner Warenhauses im Berliner Westen, in dem das Stelldichein verabredet wurde.

Von einer kleinen Estrade des Erfrischungsraumes hatte ich einen guten Überblick. Bald bemerkte ich, wie sich ein hübsches Mädchen von wirklich guter Erscheinung meinem Platze näherte. Ich hatte ihre suchenden Blicke beobachtet, erhob mich schon vor dem Herantreten des Mädchens und begrüßte sie wie eine alte Bekannte. Dadurch war der heiklen Situation schon gleich die Spitze gebrochen. Es wurde ein recht angeregtes, interessantes Plauderstündchen über Ehefragen, an das ich gern zurückdenke. Fräulein Schön bat um eine Bedenkzeit wegen der vorhandenen sechzehnjährigen Tochter, das konnte ich auch voll verstehen.

Als ich nach acht Wochen um eine weitere Rücksprache gebeten wurde, war es schon zu spät, da eine Entscheidung bereits in näherer Aussicht stand. Wieder einmal hatte ein wirklich hübsches und geistreiches älteres Mädchen eine Möglichkeit vorüber gehen lassen, vielleicht sucht sie auch heute noch.

5. Brief:

  Sehr geehrter Herr !
Ich bin Rentnerin mit einer Witwenpension von monatlich 200 Mark, gesund und noch sehr warmblütig. Ich möchte sehr gern eine ‚Ehebekanntschaft’ machen, wohlgemerkt keine Ehe eingehn, um die Pension nicht zu verlieren. Ich bewohne in D. eine Vierzimmerwohnung im eigenen Häuschen, mit einem 600 qm großen Garten. Wir könnten beide auch ohne Standesamt gut zusammenleben. Verkaufen Sie Ihre Einrichtung, soweit diese bei mir keine Aufstellung finden kann. Den Lebensunterhalt können wir zu gleichen Teilen bestreiten. Bitte schreiben Sie mir Ihre persönlichen Verhältnisse mit nachzuprüfenden Angaben. Unter den vorliegenden Umständen möchte ich Ihnen meine Adresse nicht preisgeben, ohne die Ihre zu kennen. Sowie ich Ihre Angaben geprüft habe, stehe ich mit den meinen zur Verfügung. Ich bin frei, offen und ehrlich.
Sollten Sie die gleichen Eigenschaften besitzen, so wäre ein selten harmonisches Zusammenleben gewährleistet.
 

 Hier war die Bezeichnung ‚Ehebekanntschaft’ zu wörtlich aufgefasst worden und entsprach nicht meiner Auffassung über die Ehe. Also wieder nichts.

Die für mich entscheidende Zuschrift kann ich mit Rücksicht auf meine Eheliebste nicht profanieren. Die Auskunft, die ich erhielt, lautete: ‚Frau S. ist hier als sehr solide, fleißige und sparsame Hausfrau mit bestem Leumund bekannt. Kinder sind aus der für die Ehefrau schuldlos geschiedenen Ehe nicht vorhanden. Einige Ersparnisse dürften vorhanden sein’.

Also auf diese Frau fiel – bitte nach ihren eigenen Angaben – das große Los. Ob’s wahr ist, möchte ich fast selbst bezweifeln.

Die zweite Ehe wurde das, was sie versprach, eine auf guter Grundlage aufgebaute Vernunftehe, nicht so unruhig wie die erste, bei der Mutter Sorge aus allen Ecken grinsend gastiert hatte.......

Jahre waren vergangen. Im Dienst hatte ich mich vom Streckenarbeiter bis zum Oberbahnhofsvorsteher emporgearbeitet, da begann der zweite furchtbare Weltkrieg in seinen ungeahnten Ausmaßen.

Zirka dreißig Millionen Menschen wurden hingeschlachtet, ebenso viele Menschen wurden verstümmelt und das vielfache dieser Millionen wurde in tiefste Trauer versetzt. Wie aber war dieser Krieg möglich geworden?

Er hat auch in mein Leben tief eingeschnitten, daher soll in dieser Erzählung auch etwas aus dieser Zeitepoche erwähnt werden.
Der mit unglaublicher Suggestionskraft ausgestattete Ausländer Hitler hatte es fertiggebracht, sich an die Spitze des Deutschen Volkes zu stellen und diesem noch vom ersten Weltkriege heimgesuchten Volke den Himmel auf Erden zu versprechen. Diesen Versprechungen kam die innere Zerrissenheit Deutschlands, die Arbeitslosigkeit und der Hunger zugute.

 Die Beseitigung dieser Übel, wenn auch immer auf des Messers Schneide brachte dem ausländischen Naziführer unglaubliche Massen von Anhängern und veranlasste diesen selbst zur politischen Uferlosigkeit, die das Deutsche Volk ins Verderben stürzte. Hitler verfiel in den Wahn der Unfehlbarkeit und steckte damit auch seine Berater an. Es konnte sich wohl nur um eine Wahnsinnsepidemie handeln, aus der kaum einer der Verantwortlichen heil herausgekomen ist.....

Als Deutschland in seinen Anfangserfolgen bis zur Niederringung Frankreichs gekommen war und durch die Vertragspartner im Rücken gestärkt wurde, glaubte das Deutsche Volk und glaubte auch noch Hitler an einen deutschen Sieg. Als aber England den deutschen Friedensfühler überging und Jugoslawien sich gegen Deutschland stellte, da war es der deutschen Führung schon klar, dass der Krieg für Deutschland verloren war.

Hier begann das größte Verbrechen Hitlers, der in seiner Angst jeden einzelnen Deutschen bis zum letzten Kinde geopfert hätte. Der Verbrecher und Antisemitenhäuptling Goebbels brachte es durch die dem deutschen Volke unwürdigste Kulturschande der Judenverfolgungen und der maßlosen Judenmorde zur Ächtung Deutschlands durch die gesamten Völker der Erde.

Wo blieb da die ‚Frömmigkeit’ der Parteigrößen, die von Unwissenden so oft im Rundfunk bestaunt, von den Wissenden aber schon längst erkannt wurde?

Diese feige Frömmigkeit hatte zur Folge, dass hunderttausende Deutscher die Religionspolitik durchschauten und danach handelten.
Es gibt für diese Menschen keine Katholiken, Protestanten, Juden und Andersgläubige mehr, es gibt für sie nur noch Menschen.
Es wäre nur zu begrüßen, wenn es für die Völker keine Amerikaner, Deutsche, Engländer, Russen and andere Nationen, sondern ebenfalls nur noch Menschen gäbe, vereint unter einem Zepter, um so jeden völkermordenden Krieg zur Unmöglichkeit zu machen.

 In seinem Größenwahn fiel Hitler seinen Vertragsverbündeten, der Sowjetunion in den Rücken. Diese Handlung schlug seiner eigenen Politik des Festhaltens am Bismarckschen Vermächtnis ins Gesicht, das eine dauernde Freundschaft mit Russland und dem russischen Volke forderte.
Wie dem auch sei, die Welt kann mit Recht behaupten: ‚Hitler und seine Berater haben die heiligsten Verträge wie einen Fetzen Papier behandelt und das Deutsche Volk in ihrer eigenen infernalistischen Angst mit offenen Augen in einen katastrophalen Abgrund gestürzt.
Das weniger große Verbrechen Josef Goebbels, die Herbeiführung eines ‚Volksentscheides’ wurde zur erbärmlichsten Lügenhandlung am Deutschen Volke selbst. Auf diesen Volksbetrug müssen auch die ersten ernsten Zerfallserscheinungen der Nazipartei zurückgeführt werden.
Was hatte es mich trotz aller Ermahnungen an jahrelanger Überwindung gekostet, ehe ich den größenwahnsinnigen abstrakten Hitlergruß gezwungen über die Lippen brachte. Dieser Gruß glich doch so recht dem Grußzwange der Tiroler, gegenüber den auf einem Stecken gestülpten Hut Kesslers in ‚Wilhelm Tell’. Dabei erinnere ich mich eines recht unangenehmen Erlebnisses, das ich in Berchtesgaden hatte.
Ich verlebte schon vor Hitlers Zeiten meinen alljährlichen Urlaub mit meiner Familie in Berchtesgaden. Der uralte anheimelnde Bayerngruß ‚Grüß Gott’ brachte so recht die Herzlichkeit und Gemütlichkeit zum Ausdruck.
Noch im Jahre 1939 konnte ich beobachten, dass hauptsächlich ältere Leute den Hitlergruß kaum beachteten und nur selten darauf reagierten, währen ein ‚Grüß Gott’ stets freundlich erwidert wurde.
Letzteren Gruß hatten wir uns sehr angewöhnt. So betrat ich eines Tages ein bekanntes Lokal und entbot meinen Gruß. Dieser Gruß missfiel einem Übernazisten. Er trat an mich heran und belehrte mich mit einer überheblichen Geste, dass ‚Heil Hitler’ jedem anderen Gruße vorauszusetzen sei. Solch schamlose Ministerialverfügung existierte seiner Zeit tatsächlich und wurde den Beamten in kurzen Zwischenräumen immer wieder bekannt gegeben.
Ich war fürs erste sehr verdutzt und muß wohl ein dummes Gesicht gemacht haben, doch dann hatte mich der nie erlahmende Humor wieder gepackt. Mit einem ‚Heil Hitler’, ‚Grüß Gott’, ‚Guten Abend’ ‚Auf Wiedersehen !’ verließ ich das Lokal wieder, ohne mich erst gesetzt zu haben. Ich hörte noch ein Gelächter hinter mir; jedenfalls aber dürfte mein Gruß nunmehr ‚richtig’ ausgefallen sein. Der ‚alte Kämpfer’ aber war seinerseits an der Reihe, ein dummes Gesicht zu machen.

Es ist schon richtig, ohne die unglaubliche Suggestivkraft Hitlers und ohne die Skrupellosigkeit seiner verbrecherischen Berater wäre die Nazipartei niemals zu solch furchtbarer Macht angewachsen. Ich hatte oft Gelegenheit, mich von dieser Tatsache persönlich zu überzeugen.

Als Aufsichtsbeamter eines großen Berliner Fernbahnhofs mit internationalem Verkehr hatte ich verschiedentlich Rücksprachen mit Literaten vom Fach genommen. Meine Vermutungen über die Möglichkeiten einer Massensuggestion wurden mir unzweifelhaft bestätigt.

Wir bekamen aus einigen hundert Kilometern Entfernung Besuch, einzig zu dem Zwecke, Hitler persönlich zu sehen, und ich musste mich zum Bauernführer entschließen. Nach endlosen Zurufen erschien Hitler mit seiner ‚Suite’ auf dem Balkon in der Wilhelmstraße. Man konnte sich in einem Irrenhaus wähnen, so frenetisch benahm sich die Masse. Niemand ahnte, welches Elend diese Balkonparaden über das Deutsche Volk bringen mussten. In dieser Beziehung war der Wilhelmplatz für Psychologen und Physiologen das größte Betätigungsfeld wissenschaftlicher Forschungen auf diesem Gebiete.

Der Freundschaftspakt mit der Sowjetunion war zwar von Anfang an ein politisches Natternspiel Hitlers, er brachte aber dieser Nazipartei noch den letzten Rest von Skeptikern, die Hitlern schon seit Jahren zwangsweise verpflichtet waren und zog sie in die Folgen des Vertragsbruches und des deutschen Zusammenbruchs mit hinein......

Mein Traum, eine selbständige Dienststelle zu erhalten, hatte sich erfüllt. Ich hatte es durch fleißiges Studium bis zum Oberbahnhofsvorsteher geschafft, einer Stellung, die sonst nur für die ‚Militäranwärter’ vorgesehen war. Wenn es auch eines dreißigjährigen Dienstes bedurft hatte, ich war stolz darauf.

In dieser Zeit fiel der Ausbruch des zweiten Weltkrieges mit seinem furchtbaren Völkermorden. Ich machte diesen unverantwortlichen Krieg nicht lange mit. 1940 erkrankte ich und erreichte 1942 nach größten Schwierigkeiten meine Pensionierung. Zur Zeit schwerer Bombenangriffe wurde mir in Berlin eine Wohnung angewiesen. 1943 mußte ich mit meiner Frau Berlin verlassen. Wir landeten in einem Dorfe Mitteldeutschlands (Neussen bei Torgau) bei Verwandten (Onkel Max und Tante Berta), wo wir den Zusammenbruch Hitlerdeutschlands erlebten.

So saßen wir am 24. April 1945 abends, die Gedanken sorgenvoll nach dem Osten gerichtet, in unserem mehr als bescheidenen Stübchen und warteten der Dinge, die da kommen mussten, als eine Hiobsbotschaft in unser Heim schwirrte: ‚Fluchtbereit halten, Trecks zusammenstellen, Russen im Angriff auf Torgau und die Elbestellungen. Ei Fliegeralarm abrücken in Richtung Sitzenroda!’

Überängstliche verließen, ohne den Alarm abzuwarten das Dorf. Mutigere packten die allernötigsten Sachen, meistens mehr als die fragwürdigen Wägelchen aushalten konnten, und erwarteten schlaflos den Alarm. Besonnene und solche, die nichts zu efürchten hatten, blieben im Dorfe.
Endlich, am 25. April früh 5 Uhr wurde Alarm gegeben. Zehn Minuten später rückten die ersten Pferde-, Ochsen- und Menschengespanne zum Dorfe hinaus. Für manche Flüchtlinge war es schon die dritte oder gar vierte Flucht vor der Kriegsfurie.
Nach dreistündigem Marsche – mancher Teilnehmer lag mit seiner Überlast schon zusammengebrochen im Graben – wurde uns bekannt, dass wir bereits eingekesselt wären, eine weitere Flucht daher zwecklos sei.
Plünderungen der zurückliegenden Dörfer durch die freigewordenen Gefangenen seien im Gange. Schließlich wurde die Wahrheit bekannt: Die Nazis hatten blinden Alarm gegeben, damit sich die Parteileitung erst einmal selbst in Sicherheit bringen konnte. Die Furcht vor der aufgehenden Saat hatte sie in die wildeste Flucht getrieben.

Gegen Abend kehrten die meisten der Geflüchteten in das Dorf zurück, um nicht im Freien übernachten zu müssen. Nach einigen Tagen waren fast alle Bewohner zurückgekehrt.....

Das Kampfgetöse kam näher und näher. Feindliche Flugzeuge stürzten sich auf Torgau und versenkten die auf der Elbe legenden Lastkähne mit ihren wertvollen Frachten. Explosionen ertönten, Brände stiegen empor, das Dorf selbst wurde vom Kampf verschont.

Unübersehbare Menschenmengen eines aufgelösten Gefangenenlagers – Soldaten aller Nationen – von deutschen Soldaten eskortiert, schleppten sich müde und ermattet durchs Dorf. Manches Stück Brot, mancher Schluck Wasser wurden trotz ‚Verbotes’ den Dahinschleichenden von anständig denkenden Bewohnern zugesteckt, manche Träne in den Augenwinkeln zerdrückt. Es waren ja doch alles Menschen, schwergeprüfte unglückliche Menschen, die vielleicht schon jahrelang von ihren Liebsten getrennt waren und deren Schicksal sie nicht kannten. Hatte nicht jeder von uns Deutschen auch Angehörige im Felde, wie mochte es denen ergehen?

Deutsche Truppen, zum größten Teil ohne Waffen, folgten den Gefangenen in den nächsten Tagen nach. Die Auflösung der deutschen Armee machte sich bemerkbar. Bald kam die erlösende Nachricht ‚Torgau hat sich dem Feinde kampflos ergeben!’

 Die Gewissheit, dass Torgaus Widerstand weitere Tausende an Opfern gefordert und die Stadt selbst vernichtet hätte, ließ die deutsche Verteidigung in kluger Einsicht handeln.

Die Vorhuten der roten Armee rückten heran; vereinzelt wagten sich weiße Fahnen heraus. Die russische Besatzungsarmee durchzog mit schweren und schwersten Panzern und Geschützen Tag und Nacht das Dorf. Die Häuser standen unter ständiger Erschütterung. Die Bewohner hielten sich zum Teil in den unmöglichsten Verstecken auf.

Das Dorf und seine umliegenden Hügel wurden auf Wochen vom Feinde besetzt, Neussen war Kriegsgebiet geworden.

Die kriegs- und sieggewohnten feindlichen Truppen – jahrelang von ihrer Heimat entfernt – machten von ihrem Kriegsrecht Gebrauch. Sie führten russische Sitten und Gebräuche ein und rächten sich für die angeblichen Vergewaltigungen russischer Frauen und Mädchen durch deutsche Truppen. Es war eben Krieg.
Der Bürgermeister musste sein Leben im Dienste der Hitlerregierung lassen.

 Die Rote Armee musste bevorzugt mit allen Erforderlichen versorgt werden. Die Ernährungslage wurde daher erheblich schwieriger.

 Zur rechten Zeit wurde ein neuer Bürgermeister eingeschaltet, dem selbst seine Gegner Achtung und Anerkennung zollen müssen. In schwersten Notzeiten, wie sie das Dorf noch nie kennen gelernt hatte, gelang es ihm, einen Gleichklang in den plötzlichen Umschwung zu schaffen. In manch’ kritischer Lage setzte er sich trotz eigener Lebensbedrohung unterschiedslos für die Dorfbewohner, die ihn zum Schutz anriefen, ein. Dieses für die schwere Zeit beruhigende und mutige Verhalten des Bürgermeisters verdient für spätere Zeiten festgehalten zu werden und ist dazu angetan, eine Seite der Dorfchronik zu zieren.

Hier im Dorfe war es, wo ich im wirren Durcheinander wieder zur Feder griff, um die unvergesslichen Begebenheiten den späteren Bewohnern in dem Rezitat ‚Die Saat geht auf’ in Erinnerung zu bringen.

Nach neun Wochen nachkriegszeitlichen Erlebens fasste mich die Sehnsucht nach meinen Berliner Kindern und meinem Berliner Heim wie mochte es nach der Achttageschlacht um Berlin wohl aussehen. Hatten die Kinder alles überstanden oder ruhten sie gar schon in kühler Erde -?

Sorgenvoll und gesundheitlich heruntergewirtschaftet packte ich mir für fünfzehn Tage Lebensmittel – etwa vierzig Pfund – in meinen Rucksack. Sechs Tage gingen für die Hin- und Rückreise verloren. Mit der Eisenbahn, teils in offenen Wagen und zu Fuß über herabhängende Brücken, an zerschossenen Städtern und Dörfern vorbei, ging die schwere Tour vor sich. Stöhnend und dem Zusammenbruch nahe, schleppte ich mich trotz schweren Fußleidens mit der Last im Rucksack von Etappe zu Etappe.

Wo es wieder mit der Eisenbahn weiterging, saßen die nach Hause drängenden Volksgenossen auf Trittbrettern und Dächern. Wer Glück hatte und in einem Personenwagen unterkam, saß nicht viel besser, denn die Fensterscheiben waren durchweg zertrümmert. Große Handwagen, schwer beladen, waren zwischen den Wagen quer über die Puffer geladen. Unterwegs kreuzten wir mit russischen Militärfahrzeugen. Wie oft fiel da für einen Teil der Heimdrängenden ein warmes, kräftiges Essen aus der russischen Feldküche ab.

Der Zug fuhr nur bis Lankwitz (Berliner Vorort), von dort aus musste jeder zusehen, wie er in das zertrümmerte, einem Schutthaufen gleichende Berlin hereinkam.
Diesen Weg werde ich nie vergessen. Ich will ihn, soweit er mich persönlich betrifft, zu schildern versuchen.

Es war am dritten Tage der Heimreise, vormittags 11 Uhr, als ich im Alter von sechsundsechzig Jahren und einer schweren Last auf dem Rücken, vollständig zermürbt und aufgerieben den Bahnsteig in Lankwitz mit dem Ziele Berlin-Pankow verließ. Vorbei an Trümmerhaufen und Schutthalden kam ich bis zu einer gesprengten, in einem steilen Winkel von etwa 45 Grad in die Spree hängenden Brücke.

Da, wo die niederhängende Brücke in der Spree verschwand, waren einige Bretter ohne jede Schutzvorrichtung zum jenseitigen Ufer gelegt. Eich Schauer durchrieselte mich, diesen primitiven Notbehelf überschreite zu müssen. Alte Frauen und Männer, Mütter mit Kinderwagen, die sich gegenseitig einer hinter dem anderen über den gefährlichen Steg halfen, erreichten in Angst und Sorge das jenseitige Ufer; also musste auch ich es schaffen -, und es ging.

Es war ein schöner Tag, der 27. Juni 1945. Die wärmende Sonne tat den von zwei schlaflosen Nächten durchschüttelten und fröstelnden Körper wohl. Die vom wolkenlos blauen Himmel auf das frische Grün der Bäume fallenden Sonnenstrahlen kontrastierten zwar scharf mit den in Trümmern liegenden Häuserreihen, und doch ließ dieser Tag ein hoffnungsfrohes Ahnen aufkommen: ‚Auch das wird einst im alten Glanz wiedererstehen und – vergessen werden’.

Eine weitere Stunde schleppte ich mich mehr als ich ging, bis zum Untergrundbahnhof am Tempelhofer Feld. Von hier konnte ich nach fünfmaligem Umsteigen, Überklettern von Hindernissen und Durchwaten überschwemmter Untergrundbahnsteige bis zur Danziger Straße gelangen.

Ein furchtbarer Moder- und Verwesungsgeruch hatte sich in den Untergrundbahnschächten, die mit abertausenden von Menschen überflutet worden waren und deren Leichen wochenlang im Wasser gelegen hatten, schaudernd bemerkbar gemacht.

Nach einem weiteren Fußmarsch von etwa dreiviertel Stunde, stand ich endlich in Pankow am Eingang von der Berliner in die Borkumstraße. Trümmer, Trümmer und wieder Trümmer umgrenzten das Blickfeld bis zum Eckhaus der Sellinstraße, in dem sich die Wohnung meiner Kinder befand. Das Herz klopfte mir schwer vor Überanstrengung, jetzt glaubte ich, meine Füße nicht mehr weitersetzen zu dürfen, sollte ich vor Weh’ nicht zusammenbrechen.

Die großen alten Straßenbäume ließen eine freie Sicht nicht zu, das in Frage kommende Eckhaus konnte ich daher noch nicht Bestimmtheit ausmachen. Ich riß mich zusammen und schritt weiter, einmal musste es sein. Näher und näher kam ich dem Hause. Ein innerlicher Jubel ergriff mich, das Haus stand noch, vielleicht lebten auch meine Angehörigen -!

 Im Hausflur traf ich eine Hausbewohnerin: „Leben meine Kinder noch?“ brachte ich zerkrampft über meine Lippen, ohne vorher an einen Gruß zu denken. Es war mehr Angstausruf als eine Frage.

 „Ja, sie leben noch, nur Ihre Tochter hat während der Kampftage ein schwere, fast hoffnungslose Dyphterie durchgemacht und ist wie durch ein Wunder gerettet worden. Es ist niemand Ihrer Angehörigen daheim. Ihr Sohn ist noch nicht aus dem Felde zurück. Bitte, treten Sie doch bei uns ein. Unser Junge wird sofort Ihre Schwiegertochter herbeirufen.“

Schwankend betrat ich die beschädigte Wohnung und sank kraftlos auf einen Stuhl nieder. Zwei Paar Stullen und ein warmes Russenessen hatte ich in den drei Tagen meiner Reise zu mir genommen. Die Vorräte im Rucksack waren noch nicht angerissen. Tränen der Ergriffenheit, der Freude und Erleichterung liefen mir übers Gesicht. Bald kamen die Angehörigen, auch ihnen wurden die Augen feucht, als sie sich ihrem Vater in solch erschöpften Zustande gegenüber sahen. Trotz all dem Schweren, was hinter uns lag, war es ein Tag, der unsere Herzen mit Dank gegen ein unbekanntes höheres Wesen erfüllte.

Wie begaben uns in die Wohnung der Tochter und schütteten gegenseitig unsere Herzen aus. Währenddessen entleerte ich meinen Rucksack. Mit Hilfe befreundeter Dorfbewohner, denen ich mit meiner Frau nach besten Kräften geholfen hatte, war es mir möglich gewesen, meine Reisevorräte überreichlich zu gestalten und meine Kinder mit den für diese Notzeit herrlichsten Leckerbissen zu versehen. Dazu gehörten, wenn auch nur in sehr bescheidenen Mengen, Wurst, Fleisch, Butter, Speck, Schinken, Eier, Käse, Trockenobst, Marmelade, Zucker, Mehl und Kartoffeln.

„Vater, gibt’s denn so etwas auch noch, und das sollen wir Dir wegessen, wo Du so krank aussiehst?“ Wie sie selbst aussahen, schienen sie nicht u bemerken. Ich zwängte alles den Kindern auf und zehrte nur weniges von ihrem dürftigen Vorrat. Wußte ich mich doch schon in einigen Tagen wieder daheim, wo es noch ausreichen d Kartoffeln gab.

Vier Tage hatte ich in Berlin behördlich zu tun. Was ich in dieser Zeit an Zerstörungen wahrnehmen musste, ist mit bloßen Worten nicht zu schildern. Der zehnte Teil von allem dürfte genügt haben, um selbst den fanatischsten Nazianhänger in das Gegenteil zu verwandeln.

Meine Dienstwohnung musste nunmehr mit zwei aktiven Eisenbahnerfamilien belegt werden. Ich selbst zog mich auf meine Flüchtlingsstelle nach dem Lande zurück. Vielleicht ist es mir vergönnt, auch meinen einzigen Sohn wiederzusehen.

Mit der ganzen mir noch zu Gebote stehenden geistigen Kraft werde ich mich trotz meines Alters wieder mit schriftstellerischen Arbeiten beschäftigen und so meinen Anteil an der Wiederaufrichtung der „deutschen Volksgenossen“ beitragen. Möge diese Erzählung der erste Baustein dazu sein und den lieben Lesern die auf ihnen lastenden Sorgen über manche Feierabendstunde vergessen machen.